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Dr. Wolfgang Schmidbauer
Psychoanalytiker und
Schriftsteller


1. Wann und wie ist Ihnen Heinrich von Kleist zum ersten Mal begegnet?
Wir haben im Gymnasium Der zerbrochne Krug gelesen; das hat mich amüsiert, aber nicht gefesselt. Später begann ich seine Erzählungen zu lesen, ich denke, während des Psychologiestudiums, und ich entdeckte, dass Kleist vielleicht der einsichtigste Vor-Denker der Psychoanalyse ist, den es gibt.

2. Was schätzen Sie besonders an ihm?

Ich denke, er hat die Qualität, welche John Keats vor allem William Shakespeare zugeschrieben hat. Er nannte sie negative capability – also die Fähigkeit zur Unfähigkeit, zu einem sich-Erfassen-Lassen von menschlichen Affekten und Tragödien, ohne Präjudiz und ohne Beschönigung. Außerdem schreibt er einen wunderbaren Stil, drastisch, ohne jedes überflüssige Wort und mit zielgenau treffenden Metaphern.

3. Gibt es etwas bei Kleist, das Sie ärgert oder das Ihnen gar nicht gefällt?

Seine Verschwendungssucht und insgesamt Impulsivität ärgern mich, weil sie ihn in so viele Krisen gestürzt und uns viel zu früh eines großen Dichters beraubt haben.

4. Angenommen, Sie hätten einen Tag mit Kleist in unserer Gegenwart – was würden Sie gemeinsam unternehmen?
Eine Wanderung zu einem Gewässer, in dem man schwimmen kann.

5. Worüber würden Sie gerne mit Kleist sprechen?

Über seine Kant-Krise und über die Möglichkeiten, weniger destruktiv mit gekränktem Stolz umzugehen.

6. Welche Figur aus seinem Werk steht Ihnen besonders nah und warum?
Michael Kohlhaas, weil hier die Tragik der Entwicklung zum Terroristen schon lange vor einer Gegenwart erfasst ist, in der das zum globalen Thema wird.

7. Als Zeitgenosse von Kleist - hätten Sie den Selbstmord verhindern wollen? Wie?

Selbstverständlich hätte ich das versucht. Aber es ist mir auch klar, dass radikale Entscheidungen oft nicht durch Empathie und Argument korrigierbar sind und es jedes Bemühen von außen sehr schwer gehabt hätte gegen den Sog, der von Henriette Vogel ausging, die in Kleists Todessehnsucht passte wie der Schlüssel ins Schloss. Kleist hätte Halt an seinem König gebraucht.

8. Was ist Ihrer Meinung nach die passende „Einsteiger-Lektüre“ für Kleist-Neulinge?
Ich denke, das Marionettentheater, die Erzählungen, die Briefe.

9. Was können wir von Kleist lernen?

Wie wichtig es ist, in allem Denken über den Menschen und seine Beziehungen die Geheimnisse unserer Kränkbarkeit zu erforschen und zu respektieren. Ich bin überzeugt, dass auch heute noch in jeder Organisation – Schule, Universität, Unternehmen, politische Partei – enorme Mengen an Energie verschwendet werden, weil wir nicht gelernt haben, auf narzisstische Wunden zu achten und ihrer Heilung den Raum zu geben, den sie braucht.

10. Wären Sie gern mit Kleist befreundet, wenn er noch lebte?

Durchaus, obwohl das Beste an einem Autor in der Regel sein Text ist und der Mensch demgegenüber in der Regel keine Steigerung bieten kann.

11. Das stärkste Zitat von oder über Kleist?

Das Bild von dem gewölbten Bogen, der nicht einstürzt, weil alle Steine zugleich fallen wollen.

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