Kleists Kampf mit Goethe

Im Juli 1807 erhielt Goethe durch Adam Müller Kleists Amphitryon und eine Abschrift des Zerbrochnen Krugs. In seiner Antwort an Müller kritisierte er den Zerbrochnen Krug als ein „dem unsichtbaren Theater“ angehöriges Stück, weil es ein vergangenes Geschehen, Adams Besuch bei Eve, in Dialogen nur enthülle, anstatt Aktionen in der Gegenwart selbst zu zeigen. Trotz dieser Kritik führte Goethe das Lustspiel am 2. März 1808 am Weimarer Hoftheater auf und teilte es dabei in drei Akte mit Pausen, was die von Goethe zuvor beklagte Handlungsarmut erst sichtbar werden ließ. Das Publikum hatte, als der Zerbrochne Krug anfing, bereits Domenico Della Marias komische Oper Der Gefangene hinter sich. Am Ende eines fast vierstündigen Theaterabends, als Adams Verbrechen längst aufgeklärt war, trug die Darstellerin der Eve dem Gerichtsrat Walter noch ihre lange Rechtfertigungsrede vor und strapazierte damit die Nerven der Zuhörer zum ersten und letzten Mal – die Aufführung wurde nicht wiederholt. Augenzeugen berichteten von einem „wahren Heidenlärm im Theater“, von Missfallensbekundungen des Publikums „in demonstrativster Weise, durch Pfeifen, Zischen etc.“ Die Zeitungen fielen über Kleist her, nicht über den Regisseur Goethe, nicht über die Schauspieler. Kein Wunder, dass Kleist, der bei der Aufführung selbst nicht zugegen war, zornig wurde. Wenig ist von der Vermutung zu halten, dass er Goethe sogar zum Duell forderte, weil dieser das Stück durch die Einteilung in Akte künstlich in die Länge gezogen hatte. Kleist focht nicht mit Waffen, sondern mit Worten gegen Goethe.

Es mag eine Künstlerlegende sein, dass Kleist, einer Erinnerung seines Freundes Pfuel zufolge, nur „das eine Ziel“ gehabt habe, „der größte Dichter seiner Nation zu werden“, er folglich Goethes „Vorrang gehaßt“ habe und ihm „den Kranz von der Stirn reißen“ wollte. Die Opposition von Kleist und Goethe spielte zu Kleists Lebzeiten, über die Ereignisse des Jahres 1808 hinaus, kaum eine Rolle. Wichtig wird sie erst und vor allem für Kleists Nachruhm, für seine Missachtung im 19. Jahrhundert, das sich Goethes „Schauder und Abscheu“ vor Kleists heillosem Leben und heillosem Werk anschließt, und für seine Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert, als die Autoren der Moderne Goethes Ignoranz schelten.

(Günter Blamberger)