mobile Navigation
KLEIST MUSEUM DIGITAL

Empfehlen

Drucken

Sitemap

Rückblick


Daniela Strigl verlieh den Kleist-Preis 2020 an Clemens J. Setz

Am 21. November 2021 wurde während einer Matinée im Deutschen Theater Berlin der Kleist-Preis 2020 an den 1982 in Graz geborenen Schriftsteller und Übersetzer Clemens J. Setz verliehen. Die österreichische Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Daniela Strigl hat – als von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft gewählte Vertrauensperson – gemäß der Tradition des Kleist-Preises Clemens J. Setz in alleiniger Verantwortung zum Preisträger bestimmt, mit folgender Begründung:

„Den Kleist-Preis erhält mit Clemens J. Setz ein literarischer Extremist im besten Sinne, ein Erzähler und Dramatiker, der seine Leser mit anarchischer Phantasie und maliziöser Fröhlichkeit stets aufs Neue verblüfft, sie an seinem verstörenden Kopf-Universum teilhaben lässt und dabei hinausreißt in den Schwindel der Freiheit. Sein neugieriger Blick auf die Welt verrückt die Maßstäbe der Normalität und verbindet wachste Zeitgenossenschaft mit den ganz alten Fragen, er gilt den Menschen wie den Maschinen und dem, was sie unterscheidet – im Urvertrauen auf die Macht des Bildes und im unausgesetzt ausgesetzten Grenzgang zwischen dem Visionären und dem Pathologischen.“

Die beiden ersten Romane von Clemens J. Setz Söhne und Planeten (2007) und Die Frequenzen (2009) sind im Residenz-Verlag erschienen, die folgenden Romane, Prosa- und Gedichtbände im Suhrkamp-Verlag. Für den Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2011) erhielt er den Leipziger Buchpreis, für den Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015) den Wilhelm-Raabe-Preis. 2019 wurde er mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Erzählungen Der Trost runder Dinge (2019).


Clemens J. Setz: "SELBSTLOSIGKEIT" (Preisrede)

Ein Mal in meinem Leben wurde ich Augenzeuge eines Mysteriums, dessen Erforschung mir gewiss nie ganz gelingen wird, aber das meinem Leben, wie ich hoffe, so etwas wie eine dauerhafte Forschungsrichtung verleihen könnte. Die Szene spielt auf einem Bahnsteig, in Deutschland. Ich glaube, es war in Braunschweig, und das Jahr war 2015. Eine Frau wartete mit ihren zwei kleinen Kindern auf den Zug. Da fiel einem Teenager, nach einer ungeschickten Drehbewegung, der obere Teil seines offenbar nur aus lose miteinander verschnürten Teilen bestehenden Rucksacks auf die Gleise hinunter. In derselben Sekunde ließ die Frau die Hände ihrer beiden kleinen Kinder los und lief die paar Schritte in Richtung Bahnsteig. Der junge Mann blickte nur ratlos zu den Gleisen und befand sich allem Anschein nach überhaupt nicht in Gefahr, etwa kopflos hinterher zu springen oder sonst irgendeine leichtsinnige Aktion zu wagen. Die Frau fasste ihn trotzdem bei den Schultern und zog ihn sanft vom Abgrund fort. So weit, so gut. Eine beherzte und gute Geste. Aber nun brachte sich die Frau, während ihre beiden ankerlos gewordenen Kinder ihr mit tapsigen Schritten nachwackelten (was mich wiederum dazu brachte, ihnen nachzugehen), in eine seitliche, wie im Damensattel sitzende Haltung am Rande des Bahnsteigs und angelte mit einem weit ausgestreckten Bein nach dem gefallenen Gegenstand auf dem Gleisbett. Es gelang ihr, das Ding zu bergen und dem Jüngling zurückzugeben. Der bedankte sich. Die Frau empfing ihre Kinder, die bis zu ihr an den Rand des Bahnsteigs gegangen waren.

Diese Szene beschäftigte mich so sehr, dass ich während der anschließenden Fahrt im Zug von dem durch sie vermittelten Gefühl der Beklemmung ganz enge Bronchien bekam. Bis heute nage ich gedanklich oft an diesem Rätsel herum, wie es möglich sein konnte, dass eine Mutter die Hände ihrer beiden auf einem Bahnsteig stehenden Kinder losließ und wie ferngesteuert von ihnen fortging, nur um einen vollkommen irrelevanten Gegenstand, der überdies noch einem Fremden gehörte, vorm Überfahrenwerden zu retten.

Nun hätte ich es mir freilich leicht machen und über dieses Thema nie irgendetwas schreiben können. Es hätte durchaus ein Mysterium im Hintergrund bleiben dürfen, ungelöst bis zum Ende, eben wie die meisten Mysterien. Aber in der Beschäftigung mit dem Werk Heinrich von Kleists, das ich in der Vorbereitung auf den Tag der Preisverleihung unternahm, fiel mir auf, dass von allen Werken deutscher Sprache vor allem seines das geeignete, ja vielleicht das einzige zu sein scheint, das sich, wenn auch in einer eher subkutanen, aber dafür doch erstaunlich dauerhaften und stellenweise recht besessenen Weise mit eben diesem Rätsel, oder mit dieser Art von Rätsel auseinandergesetzt hat, und so kann ich es mir erlauben, die Spielarten dieser menschlichen Ungeheuerlichkeit sozusagen in Kleists Schirmherrschaft durchzukosten und aufzuzählen.

Wir begegnen dem Geheimnis bei Kleist an vielen Stellen. Zum Beispiel in seiner von mir besonders geschätzten Erzählung Der Findling. Der wohlhabende Kaufmann Piachi hat sich mit seinem elfjährigen Sohn auf Reisen begeben. Er hält sich in Ragusa auf, wo eine “pestähnliche Krankheit” ausbricht. Um sich und den Sohn zu retten, reist Piachi schnell ab. Aber da fällt ihm, gerade beim Verlassen der Stadt, ein fremder Knabe auf, der

"nach Art der Flehenden, die Hände zu ihm ausstreckte und in großer Gemütsbewegung zu sein schien. Piachi ließ halten; und auf die Frage: was er wolle? antwortete der Knabe in seiner Unschuld: er sei angesteckt; die Häscher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter schon gestorben wären; er bitte um aller Heiligen willen, ihn mitzunehmen, und nicht in der Stadt umkommen zu lassen. Dabei faßte er des Alten Hand, drückte und küßte sie und weinte darauf nieder. Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in ebendiesem Augenblick, seine Farbe veränderte und ohnmächtig auf den Boden niedersank, so regte sich des guten Alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wußte, was er mit demselben anfangen sollte."

Hier haben wir dasselbe Mysterium. Die vorrangige Aufgabe eines Vaters ist es, sein Kind und sich selbst zu schützen. Ein fremder Knabe, der alle Anzeichen des übertragbaren Todes an sich hat, ja dieses Verhängnis sogar wörtlich ankündigt, sollte, so könnte man denken, in der Fürsorgehierarchie viel weiter unten stehen. Und dennoch reagiert Piachi anders: Er nimmt den Knaben mit, lässt ihn sogar von seinem Sohn berühren. Und natürlich geht die Geschichte nicht gut für den Sohn aus. Er stirbt - und das Findelkind bleibt in Piachis Haushalt, wo es ihm auf eine eigenartig ungewollte, ja fast mürrische Art tief an die Seele wächst. Elektrisierend finde ich, bei jedem Wiederlesen, diese in einem einzigen hastigen Kleistsatz zusammenfindenden Empfindungen von Ansteckungsekel und Mitleid. Sie scheinen einander irgendwie paradox zu ermöglichen oder bedingen. In dieser eigenartigen Urszene überschreibt der visuelle Eindruck einer Ohnmacht selbst die den Ansteckungsekel, führt also zu einem, wie Elias Canetti es nannte, Umsprung der Berührungsfurcht.

Es scheint, als wäre der Impuls zu helfen, freundlich zu handeln, seine Mitmenschen als solche zu ehren und anzuerkennen, oft nur aus einem Kurzschluss-Zustand des Bewusstseins, also einer möglicherweise vollkommen irrationalen und daher eigentlich für niemanden empfehlenswerten Krisedes Verstandes heraus erklärbar. Proust beschreibt eine ganz ähnliche Beobachtung in Unterwegs zu Swann:“Wenn ich später im Laufe meines Lebens, in Klöstern etwa, Gelegenheit hatte, wirklich heiligen Personifizierungen der tätigen Nächstenliebe zu begegnen, so hatten diese im allgemeinen das muntere, positive, gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl, kein Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden zu lesen stand, freilich auch keine Furcht vor der Berührung mit ihm, kurz, sie trugen die sanftmutlosen Züge, das sympathielos erhabene Antlitz der wahren Güte zur Schau.” Eigenartig. Diese Zeilen klingen augenblicklich wahr. Aber warum eigentlich? Ähnlich verwirrend erscheint mir jener ebenso augenblicklich wahr erscheinende Moment in einem späten Roman von Céline, wo dieser, mit seiner Frau und seinem Kater auf der Flucht, in Hamburg in einem Zug auf eine Ausreisemöglichkeit wartet. Er trifft da auf eine Gruppe behinderter Kinder, deren Betreuerin bereits Blut hustet und wohl nicht mehr lange leben wird. Sie alle sind ausgehungert im Zug, Hamburg ringsum ist zerbombt, und Essen existiert nicht mehr. Die Betreuerin kann nicht mehr weiter. Jetzt ist es an Céline, sich um die behinderten Kinder zu kümmern, ihm, der, soweit ich das beurteilen kann, ein äußerst harter und intoleranter Mensch gewesen sein muss. Was fällt so einem wie ihm in diesem Augenblick ein? Er bittet seine Frau, ihre Tasche zu öffnen und den Kindern den Kater zu zeigen. Vielleicht heitert der sie ein wenig auf. Ist das eine kleine Kerzenflamme von Menschlichkeit? Oder zen-artig gleichgültiger Zynismus? Es erinnert mich jedenfalls an eine weitere unvergessliche Szene roboterhafter, selbstschädigender Mildtätigkeit, diesmal in Wassili Grossmans Roman Leben und Schicksal, wo eine alte Frau, die eigentlich fest entschlossen ist, einen Stein auf einen deutschen Gefangenen zu werfen, zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich in ihre Tasche greift und ihm ein Stück Brot reicht, das ihr selbst später bitter abgehen wird. Helfen, Freundlichsein taucht an diesen sonderbaren Stellen der Weltliteratur immer auf als Auflehnung gegen ein absurdes Universum, als das, was in diesem Augenblick gegen die Gebote der Vernunft verstößt, als Vorprogramm zur Selbstzerstörung.  Auf ganz kompakte Form bringt es die Gedichtzeile von René Char: “Wer den Menschen wirklich Hilfe leisten will, sollte sie nicht lieben.” Wie eigenartig das ist. Stimmt es denn? Schlagen wir wieder bei Kleist nach. Er scheint von diesem höchst paradoxen Naturgesetz, das heißt, von der auffallenden Seelenlosigkeit und bisweilen sogar unmenschlichen Kälte der Hilfsbereiten am meisten verstanden zu haben.

Wenn also etwas wegfallen muss, etwa die Sympathie oder die Liebe oder die Zurechnungsfähigkeit oder die elterliche Fürsorge, damit das Heilige im menschlichen Handeln hervortreten kann, was sagt das dann über die Menschen? Kleists Amphitryon bietet eine ausführliche Behandlung dieses Problems. Der Gott Jupiter ersetzt als Doppelgänger einen Menschen und dies verursacht eine Weile allerlei Verwechslungskomik- und tragik, allerdings wird es gegen Ende sehr unheimlich, als Jupiter den unglücklich von seinem Platz verdrängten Amphitryon fragt, ob er endlich einzusehen bereit sei, dass er, Jupiter, der wahre Amphitryon sei. Seine Frau Alkmene ist längst davon überzeugt, dass der verkleidete Gott ihr Ehemann sein müsse, und der ursprüngliche Amphitryon ein Betrüger. Als Leser erlebt man beinahe körperliche Qualen an dieser Stelle, weil diese groteske Aberkennung eines ganzen Menschenlebens mit so viel Schwung und Eleganz geschieht; gerade mal innerhalb von eineinhalb Druckseiten. Und Amphitryon stimmt dem Urteil sogar noch zu: Jawohl, er gebe zu, dass der andere zweifellos der echte sein müsse, denn seine Frau sage es so. Heißt das, er liebt sie so sehr, dass er ihrem gegen ihn selbst gerichteten Wort mehr Gewicht verleiht als seiner gesamten bisherigen Lebenserfahrung? Schwer zu sagen. Jedenfalls ist es ein höchst seltsamer Moment. Wie ein Riss in der Matrix. Als wäre er irgendwie froh darüber, das eigene Leben als bloß von höheren Dimensionen abgestrahltes Hologramm zu akzeptieren. Amphitryon wirkt beinahe glücklich, die unechtere Version einer schon immer bestehenden besseren Existenz sein zu dürfen, sozusagen die entkernte Simulation, die Vorübung für das Eigentliche.

Oder in Das Erdbeben in Chili, in der eine junge Frau namens Josephe für das Verbrechen, innerhalb der Klostermauern von ihrem Freund schwanger geworden zu sein, zum grausamen Tod durch Enthauptung verurteilt, aber dann von dem titelgebenden Erdbeben sozusagen befreit wird. Gerade hatte sich das Volk noch gefreut, sie gleich hängen zu sehen, alle Fensterplätze waren vermietet, alles bereit für den öffentlichen Mord, aber nun ist plötzlich die Stadt zerstört, Familien retten sich ins Umland. Josephe findet im Chaos ihr Kind, flieht, und kommt sogar wieder mit ihrem Geliebten Jeronimo zusammen. Da wird sie angesprochen. Ein Fremder fragt sie, ob sie, die junge Mutter, diesem Kind hier bitte die Brust geben könnte. Sie tut es natürlich, ohne lang nachzudenken. Ringsum sitzen oder liegen all jene, die Stunden zuvor noch ihr unter Gejohle den Tod wünschten. Manche schauen sogar noch, wie Kleist so wunderbar bemerkt, “mit träumerischem Blicke” in ihre Richtung. Dennoch flieht Josephe nicht vor den Bestien. Das heißt, ganz wohl ist ihr natürlich nicht. Aber allen scheint, angesichts des gemeinsam erlebten Weltendes, die archaische Mordlust vergangen zu sein. Was sich freilich, im Laufe der Erzählung, als tragischer Irrtum erweist. Sie gibt dem Kind dennoch die Brust, auch auf die Gefahr hin - nein, nicht einmal auf die Gefahr hin, denn in dem Augenblick gibt es gar keine Gefahr, nur ein ungutes Gefühl, ein Sich-Umblicken, aber das Neugeborene vor ihr ist wichtiger und übertönt ihre Umsicht, ihre Vernunft, ihre bisherige Geschichte.

Auch der automatenhaft handelnde Prinz von Homburg kommt einem in den Sinn. Im Verlauf dieses singulär seltsamen Stücks wird so an ihm fast so etwas wie eine Erziehung nach dem japanischen Samurai-Codex Hagakure vorgenommen, an deren Ende statt einem menschlichen Bewusstsein ein roboterhafter Zustand der Befehlsautomatie steht. Schon in der ersten Szene aber ist der Prinz nicht vollständig Mensch, sondern scheint ins Uncanny Valley gerückt. Freunde studieren ihn gemeinsam, wie etwas in einem Schaugehege:

"Als ein Nachtwandler, schau, auf jener Bank,
Wohin, im Schlaf, wie du nie glauben wolltest,
Der Mondschein ihn gelockt, beschäftiget,
Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich,
Den prächt'gen Kranz des Ruhmes einzuwinden."

Sie nehmen ihn wie eine animierte GIF-Datei wahr, eine deskriptive Endlosschleife seiner selbst, eine Hülle ohne Wesenskern. “Ruf ihn bei Namen auf, so fällt er nieder”, lautet Hohenzollerns Vorschlag. Der Prinz scheint also bereits sehr früh in seiner Geschichte eine Dimension des Menschlichen verloren zu haben. “Seiner Nachwelt gleich” - auch das ein tief hallender Satz, und davor dieses interessante “sich träumend”. Es ist einer der wirksamsten Einstiege in eine Geschichte, die mir bekannt sind. Die Hauptfigur wird in einem vollkommen entindividualisierten Augenblick angetroffen und von außen bestaunt, kommentiert, eingeordnet. Sie ist, gleich von Anbeginn, nicht sie selbst, sondern eine Art Simulation. Der Prinz von Homburg, der sich selbst im Schlafwandel einen Lorbeerkranz flicht, ist zudem ein unerhört rührendes Bild, ein Scheinwerferblitz in eine Existenz, in der wohl tatsächlich Träume von Ruhm alle bisherigen Gedanken und Entscheidungen begleiten. Zugleich lässt dieser magische Halbsatz “seiner eignen Nachwelt gleich” an jene Formel denken, mit der W. H. Auden in einem berühmten Gedicht das langsame Sterben von William Butler Yeats beschrieb: “The provinces of his body revolted / The squares of his mind were empty / Silence invaded the suburbs / The current of his feeling failed; he became his admirers.” Er wurde seine Verehrer. Genau das passiert, schon zu Lebzeiten, mit einem Menschen, den es allzu weit, allzu heftig in die Gehege des Ruhms treibt. Er betritt, wie gesagt, das Uncanny Valley - und wird seine Verehrer, oder seine Vorbilder.

Am deutlichsten hat sich Kleist mit der Frage des Roboterhaften in seiner Schrift Über das Marionettentheater beschäftigt. Hier trieb ihn die Frage nach der Eleganz um, dem Sitz der Seele, der Handhabung der Glieder und des Schwerpunkts beim Tanz. Wer allzu viel nachdenkt, kann seine Kunst nicht in vollkommener Grazie und Anmut ausüben, so die etwas plumpe Zusammenfassung des Aufsatzes. Merkwürdig finde ich, wie sehr mich die Beschreibung des Marionettenhaften beim Erstlesen ängstigte. Ich war damals neunzehn oder zwanzig und der Schrecken, in den mich die an sich so tröstliche Schrift versetzte, war beinahe zu viel. Sie wurde seither nur von einer Erzählung übertroffen, einem Geschwistertext zu Kleists Marionettentheater, nämlich der Geschichte von Mr Thompson aus Oliver Sacks’ berühmten Fallgeschichtenbuch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Mr Thompson leidet an einer extremen Form des Korsakow-Syndroms und sein Kurzzeitgedächtnis dauert nicht länger als einige Sekunden. Er behält nichts von dem, was ihm widerfährt oder gesagt wird. Er weiß nicht, wo er ist, wer die anderen Menschen rund um ihn sind.  So erfindet er, in einer sogar den Erzähler Sacks nach einer Weile ermüdenden Art von Dauergewitzel und gehetzter Fabuliersucht, wer die vor ihn tretenden Menschen sein könnten. Er rät immer von neuem, kombiniert und deutet visuelle Erkennungszeichen (wie zB ein Stethoskop) und gleitet doch letztendlich immer ab. Wieder und wieder misslingt ihm die allmähliche Verfertigung der Persönlichkeit beim Sprechen.

Sacks schreibt, Mr Thompson komme ihm “de-souled” vor. Einen solchen frevelhaften Satz hatte ich überhaupt noch nie gelesen. Ich war zutiefst empört. Figuren existierten doch überhaupt nur deshalb, damit man ihnen, zumindest vorübergehend, eine Seele verlieh - oder meinetwegen unterstellte oder andichtete oder nachwarf - und hier warf jemand seiner Figur vor, sie habe keine Seele mehr. Steckte hier wirklich ein Mensch in absolut unrettbarer, keiner Religion und keiner Metaphysik mehr zugänglichen Hölle fest? Eine erzählerische Grenze des Taktgefühls schien überschritten. Und, was das ganze noch schlimmer machte: die Grenze war innerhalb der Erzählung mit spürbarer Liebe, mit Fürsorge, mit Mitleid überschritten worden. Mr Thompson wird am Ende der Betrachtung bei einer Begegnung mit der Natur gezeigt, im Garten, umgeben von lauter Dingen, auf die man nicht sprachlich einwirken muss, um in ihrer Gegenwart zu bestehen, und da sei er, wie Sacks uns versichert, für einen Augenblick still, inmitten all der “quiet non-human self-sufficiency and completeness” der Pflanzen, und existiere mit einem “restored sense of being in the world, being real”. Ungeheuerliche Zeilen.

Vielleicht liegt tatsächlich etwas Frevelhaftes in der liebevollen Faszination für die roboterhaft Gewordenen, für ihren Wegfall der Komplexität. Mir fällt da etwa Anton Kuhs Beschreibung der Praterausrufer ein: “Seltsame Wesen, von der Normal-Akustik des Lebens ausgesperrt. (...) Welche Fähigkeit des Weghorchens muß ihr Gehirn erlangt haben!” Oder auch Elias Canettis Erzählung über die Blinden von Marrakesch, die er “die Heiligen der Wiederholung” nennt, weil sie alle dasselbe Wort tausende Male am Tag wiederholen, jeder in seiner eigenen lautlichen Variante. Aber anders als Kuh sieht Canetti in dieser nervenzersetzenden Wiederholung auch etwas Dunkel-Verlockendes. “Ich habe mich”, schreibt er, “seit ich aus Marokko zurück bin, mit geschlossenen Augen und untergeschlagenen Beinen in die Ecke meines Zimmers gesetzt und versucht, eine halbe Stunde lang in der richtigen Geschwindigkeit und mit der richtigen Kraft “Alláh! Alláh! Alláh” zu sagen. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich das einen ganzen Tag und einen guten Teil der Nacht so weiter sage; dass ich nach kurzem Schlaf wieder damit beginne; dass ich es Tage und Wochen, Monate und Jahre fortsetze; dass ich alt und älter werde und so lebe, und zäh an diesem Leben festhalte; (...) Ich habe begriffen, welche Verführung in diesem Leben liegt, das alles auf die einfachste Art von Wiederholung reduziert.” Ich erinnere mich an einen ähnlich fragwürdigen Selbstversuch, den ich als Kind unternahm. In unserem Bezirk gab es einen Bettler, der den ganzen Tag “Bittebittebittebitte” wiederholte, stundenlang und scheinbar ohne je Luft holen zu müssen. In der Schule wussten alle von ihm, machten Witze über ihn und imitierten ihn. Einmal machte ich zuhause den Versuch, wie lange ich es aushielt, seinen simplen Bittruf zu wiederholen. Ich kam nicht sehr weit. Vermutlich ist auch das eine Urerfahrung einer gehobeneren Gesellschaftsschicht: die Mantren der unteren Klassen am eigenen Leib ausprobieren und irgendwann kopfschüttelnd aufgeben oder sich, so wie Canetti es macht, in eine bestimmte Art von Erkenntnis retten. Der Kern des Mysteriums wird durch solche lächerlichen “Übungen” nicht berührt.

Am weitesten in das Mysterium der Selbstlosigkeit, des hilfreichen Selbstverlusts, dürfte sich ein Mann namens George Price hineingewagt haben. Er könnte direkt einer Novelle Kleists entsprungen sein. Price war Programmierer bei IBM, aber erlernte im Alleinstudium viele andere Disziplinen, unter anderem Evolutionsgenetik und Statistik. Er entwickelte eine Gleichung, die das gesamte Feld veränderte, die sog. Price-Gleichung. Sie beschreibt die Änderung der Allelfrequenz einer Population. Aus ihr ging - zumindest nach Ansicht ihres Entdeckers - hervor, dass echter Altruismus nicht existierte. Altruistisches, d.h. roboterhaft ferngelenktes Hilfsverhalten, das der eigenen Tribe oder dem eigenen Organismus scheinbar schadet, “hilft”, vereinfacht gesprochen, doch am Ende der eigenen Art. Price war über diese Einsicht vollkommen verzweifelt. Die Gleichung stimmte, aber konnte nicht wahr sein. Er weigerte sich, seine eigene Entdeckung anzunehmen. Und er lehnte sich sogar aktiv gegen sie auf, durch eine Art von absurdem, anarchischem Aktivismus. Denn wenn sich der Altruismus als ein evolutionär hilfreiches Ding erweist, wo man sich selbst opfert sozusagen, aber immer für - immer für - etwas, dann kann es “wahren Altruismus” nirgends im Universum geben, oder es kann ihn eben nur geben als sinnbefreites Gefuchtel im luftleeren Raum. Und genau zu dem wurde sein Leben. Er gab sein ganzes Geld an Obdachlose. Er ließ sie in seinem Haus schlafen, bis er selbst aus dem Haus verdrängt wurde. Am Ende, als er nichts mehr besaß und kein Geld mehr hergeben konnte, brachte er sich durch einen mit einer Nagelschere zugefügten Schnitt durch die Kehle um.

Price hatte versucht, buchstäblich zu einem Hilfs-Automaten zu werden, der nicht mehr an “vernünftige” bzw notwendige Dinge wie Selbsterhalt dachte. Nur so würde er sozusagen gegen Gott gewinnen, der ihm diese ungeheuerliche Gleichung geschenkt hatte. Kleist, der Kenner der Automatenmenschen, hätte ihm ein würdiges Denkmal schreiben können. Vielleicht hätte er an seinem Beispiel gezeigt, dass das Automatenhafte immer die Signatur der Auflehnung gegen die Verhältnisse besitzt, gegen das Universum, das Schicksal. Vielleicht gehören sogar die in ruhiger, sauberer Planmäßigkeit verrichteten Vorbereitungen jener beiden zum Sterben entschlossenen Leute am Wannsee dazu, im November 1811. Aber Selbstmorde gehören bekanntlich nicht in die Sphäre der Hermeneutik. Am Leben von Kleist, an seinem Werk, können wir, auch wenn sein Tod dagegen Einspruch zu erheben scheint, lernen, dass wir, wenn etwas fehlt, zum Beispiel eine Seele, oder auch bloß eine Erklärung, eine Richtung, eine Alternative, ein “wahres Leben”, oder ein Ausweg, zu erzählen beginnen müssen. Erzählen als vorübergehende Rettung wie auch als unabschüttelbares Teufelspakt.

Ich danke der Gesellschaft, die sich seit vielen Jahren so fürsorglich um Kleists Werk und dessen Verbleib in der Welt kümmert, die, mit anderen Worten, darauf achtet, dass es bewohnt und bespielt und beseelt bleibt, für die Ehre dieser Einladung.


Laudatio von Daniela Strigl

„– Und da hinten schließlich das Spätwerk, sagte der junge Mann und deutete auf ein langes Regal voll dunkler, teilweise zerfallener Bücher. Der ganze späte Setz. Der Warteschlangen-ZyklusEnkel und Asteroiden. Alles aus seiner Nach-Meer-Periode.“ So beginnt Clemens Setz’ Erzählung „Das Herzstück der Sammlung“; dieses ist der greise Dichter selbst, der hinter verschlossenen Türen im Gitterbett gehalten wird und sich an einem meeresstrandähnlichen Zimmerbrunnen ergötzt – offenbar markiert die Entdeckung des Meeres eine Zäsur in seinem Œuvre. Als Clemens Jot Setz – oder wie man in Österreich sagt: Clemens J. Setz – die Erzählung schreibt, ist er 28 und hat naturgemäß nur ein Frühwerk vorzuweisen, seinen Debutroman „Söhne und Planeten“ etwa, dessen Titel in „Enkel und Asteroiden“ nachhallt. Der Hang zur Größe ist jedoch ebenso unverkennbar wie die Gabe der Selbstironie. Hier hat einer von Anfang an das Lebenswerk im Blick und mißtraut zugleich dem Ruhm. Wie der Held seines Romans „Die Frequenzen“, der über die Bücher der Schriftsteller meint: „Solange sie noch gedruckt werden, glaubt sich der Verfasser unsterblich. Wenn er tot ist, weiß er es besser.“ „Was liegt am Ruhm, da man den Nachruhm nicht erleben kann?“ fragte Marie von Ebner-Eschenbach. Kleist sah das bekanntlich anders. „Ich will hinein und muß hinein, u. sollts auch in der Quere sein“, schrieb er – quer – in das Poesiealbum seiner Schwester.

Der Antiqua-Setzkasten hat 125 Fächer, davon elf sogenannte ganze, für die am häufigsten verwendeten Bleilettern. Diese elf Fächer möchte ich heute bestücken, nicht mit Buchstaben, sondern mit elf für die Literatur von Clemens Setz charakteristischen Miniaturen, mit den übrigen Fächern könnten Sie, meine Damen und Herren, bei der Setz-Lektüre nach Ihrem Gutdünken verfahren.

Beginnen wir mit dem Herzstück der Sammlung:
 

1 Der Dichter

„Setz, Clemens Johann (1982-?): Österreichischer Schriftsteller. Verfasser obskurer Novellen und Romane, die häufig in seiner Geburtsstadt Graz angesiedelt sind“, steht auf dem Vorsatzblatt des Romans „Die Frequenzen“, angeblich ein Eintrag im „Konversationslexikon der Jenseitsmythen“. Der Dichter, vielmehr sein mehr oder weniger stark verfremdetes Konterfei, begegnet uns, mit und ohne Bart, mit und ohne Sakko, meist mit Brille, des öfteren in seinem Werk, am prominentesten in Gestalt des psychisch labilen Mathematiklehrers Setz in dem meisterlich komponierten Roman „Indigo“. Jener ist, wie so viele Protagonisten, Patient. Am Anfang der Geschichte steht das Faksimile eines Befunds, eines Patientenblatts, ausgestellt vom Landeskrankenhaus Graz auf Setz, Clemens Johann, wie der Autor geboren am 15.11.1982. Der Spitalsaufenthalt ist die Folge eines Sturzes, der wiederum die Folge des ungesunden Einflusses eines „Indigo-Kindes“ ist. Weil diese Kinder durch eine Art Strahlung eine Gefahr für ihre Umwelt darstellen, werden sie abgesondert oder, wie es die Gesundheitsbehörde politisch korrekt formuliert, „reloziert“. Mit dem mysteriösen Indigo-Syndrom hat der Autor das passende Bild für den menschlichen Wunsch nach Nähe und dessen unerquickliche Folgen gefunden. Sein Namensvetter im Roman kann ein Lied davon singen. Der Dichter hingegen ist ein Wesen mit Nimbus, dem man nicht trauen sollte. In der Erzählung „Die Vase“ inszeniert ein an den jungen Handke gemahnender Schriftsteller die Totenwacht an der Bahre seiner Mutter im Beerdigungsinstitut als verblüffend folgenloses Happening. Der junge Setz war, nach eigener Erinnerung, vor allem ein Möchtegerndichter, einer, der täglich um halb fünf aufsteht und sich im Sakko an den Schreibtisch setzt, der im Innsbrucker Traklpark ein halbes Sonett dichtet, ehe er dessen Lächerlichkeit erkennt. Anders als der Clemens Setz im Roman hängt der „echte“ Setz sein Lehramtsstudium der Mathematik an den Nagel, die Mathematik bleibt dennoch im Blick. Kleist: „Ich kann ein Differentiale finden und einen Vers machen; sind das nicht die beiden Enden der menschlichen Fähigkeit?“
 

2 Das Ei

„Das Frühstücksei in dem roten Holzbecher sah aus, als würde es intensiv über etwas nachdenken. Ein stiller runder Gegenstand.“ Die Menschen in Setz’ Büchern brauchen die stillen runden Gegenstände zum Ausgleich für die Zudringlichkeit der Welt, als Mittel gegen die abgründig grundlose Angst. „Der Trost runder Dinge“ heißt der zweite Erzählband, und Herr Zweigl, der so gerne seine vernichtende Erfahrung mit seinen Söhnen teilen würde, weiß ihn zu schätzen, den „Anblick von Auberginen oder Tomaten, überhaupt runde Sachen, und überhaupt Obst, die meisten Sorten“. Eine Protagonistin mag den frischen Schnee, der scheinbar über Nacht nachwächst, weil die Dinge in der winterlichen Stadt „um vieles weicher und runder“ wirken. In dem ausschweifenden Therapieroman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ sind es Ballone, „diese herrlichen sphärischen Gebilde, bei deren Anblick man innerlich runder und vollkommener wurde“.
 

3 Der Allerwerteste

Ein doppelrundes Objekt, das in diesem Setzkasten nicht fehlen darf, verdankt sich Setz’ Drang zur Drastik, der sich auch durch andere Körperteile unter der Gürtellinie darstellen ließe, was freilich die hier gebotene Dezenz verbietet. Man kann sich die Setz’sche Version des Podex ausmalen wie in einer Szene von Hieronymus Bosch, bizarr losgelöst von seinem Besitzer, wie im Triptychon „Der Garten der Lüste“ mit einer Notenschrift bedeckt oder mit einem herausragenden Blumenstrauß geziert. Nähe und Gewalt sind bei Setz Geschwister, davon zeugen Küsse, Bisse und Schlimmeres. In der Erzählung „Milchglas“ sucht ein alles andere als harmloser schlafgestörter Knabe Trost und Beruhigung durch Dinge, die Alpträume gewöhnlich erst erzeugen, die Austreibung des Teufels durch den Beelzebub: die Kreuzigung des Isenheimer Altars zum Beispiel oder „die musikalische Hölle von Bosch“. Der Allerwerteste wird in mehreren Texten von Setz bei der Ausübung sexueller Praktiken entblößt, aber auch, ad usum delphini, in einem Streich des jungen Till Eulenspiegel, dessen Abenteuer Clemens Setz nacherzählt hat: In „Wie Till bewies, dass er kein schlechter Junge sei“ reitet er mit seinem Vater aus und produziert sich hinter dessen Rücken vor einigen Bauern, er zeigt ihnen „seinen nackten Hintern“ und schüttelt eine versteckte Blindschleiche aus der Hose. Ist Eulenspiegel „die vielleicht freieste Figur der deutschen Literatur“, so ist Clemens Setz ihr vielleicht freiester Dichter: grotesk, grandios verstörend, unbekümmert derb, ja obszön, gerade dort, wo er auch Raum für Zartheit läßt. Seine rasende Klugheit und sein Witz sind, wenn man so will, kleistisch – wie in der „Anekdote aus dem letzten Kriege“, in der ein zu seiner Füsilierung schreitender Tambour die Hosen herunterläßt und sagt, „sie mögten ihn in den .... schießen, damit das F... kein L ... bekäme. Wobei man noch die Shakespearesche Eigenschaft bemerken muß, daß der Tambour mit seinem Witz, aus seiner Sphäre als Trommelschläger nicht herausging.“ Das Fell und das Trommelfell finden ein Echo bei Setz: „Dann – ein Wort wie ein Trommelschlag“.  In den gesammelten Nacherzählungen verworfener jugendlicher Versuche unter dem kryptischen Titel „Glücklich wie Blei im Getreide“ (was ist das? Schrot? Die Flinte im Korn? Bleilettern?) wird eine Gallenblase mit Sand gefüllt, um Glück zu demonstrieren. Da fällt mir Kafkas Briefstelle ein: „Kleist bläst in mich wie in eine alte Schweinsblase“. Das kann Setz auch.
 

4 Der Bär

Diese Figur könnte auch „Die Katze“ heißen oder „Der Kater“. Deren gibt es nicht wenige in der Prosa von Clemens Setz. „Kleiner Bär“, nennt Natalie in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ihren Kater Chat, der ihr vermutlich näher steht als alle menschlichen Lebewesen. Sie registriert den „ewigvergnügten Gesichtsausdruck seiner Spezies“ und bewundert das Kompakte seiner Sitzhaltung, „die Vorderpfoten eingerollt, selbst der Schweif unterhalb des Körpers“. Dodo, die Katze des sensiblen Mathematiklehrers Clemens Setz, liegt „zu einer friedlichen Katzenkugel zusammengerollt“, ein überaus tröstliches rundes Ding. „Als sie merkte, dass ich sie ansah, öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Ich zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte höflich zurück.“ Höflichkeit ist auch die Grundtugend im menschlichen Umgang mit Katzen, „was war wohl höflicher?“, denkt sich ein Katzensitter an anderer Stelle, „wegsehen oder den Blick erwidern?“ Und Herr  Magister Setz empfindet das irrtümliche Auf-den-Schwanz-treten als Menetekel seines eigenen Grausamkeitspotentials, das er denn auch ausschöpfen wird – um einen Tierquäler zu bestrafen. „Die Unmöglichkeit, sich bei einem Tier zu entschuldigen.“ Weil das Tier die Unschuld schlechthin verkörpert? Natalie, die betreuungsbedürftige Behindertenbetreuerin, die sich, wiederum zum Trost, eine unsichtbare Maus auf ihrer Schulter leistet, entschuldigt sich bei Chat, indem sie ihn „kleiner Bär“ nennt. Kleist-Leser denken an den Bären in „Über das Marionettentheater“ und die Grazie der bewußtlosen Kreatur, der nur die göttliche Grazie gleichkommt. Vom Baum der Erkenntnis zu essen, „um in den Stand der Unschuld zurückzufallen“, heißt es am Schluß, das sei „das letzte Capitel von der Geschichte der Welt.“ Ein Kleist-Leser ist auch Clemens Setz. Der die Geschmeidigkeit des Tiers bewundernde Katzensitter in „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ betrachtet seine Handgelenke: „Gelenke des Marionettenkünstlers, der er gerne gewesen wäre. Über das Marionettentheater. Letzte Kapitel der Geschichte der Welt.“
 

5 Das Fahrrad

Unter allen Fortbewegungsmitteln ist das Fahrrad den Setz’schen Figuren das liebste. Vielleicht weil es so ganz und gar normal ist und doch eine Schwäche für alles Deviante hat, für Menschen am Wegesrand und auf Abwegen – Sonderlinge, Einzelgänger, streunende Frauen. Die Integrität der Maschine bildet den inneren Zusammenhalt ihres Besitzers ab. Wenn ein Fahrrad nächtens „von einem Unbekannten in alle Einzelteile zerlegt“ wird und der Besitzer diese in der Früh im Garten „fein säuberlich“ zu einem Quincunx-Muster geordnet vorfindet, entsprechend den fünf Augen des Würfels, darf man dem Mann eine Neigung zur Dissoziation unterstellen. Das Fahrrad des Clemens Setz ist ebenso wenig tot wie der Rest der Materie, es verhält sich zum Beispiel wie ein Haustier, ein „altes Fahrrad, eingekuschelt in seine Hecke“, oder es wächst, erotisch dynamisiert, zum Fabelwesen: „Man stelle sich vor, eine Frau, von der Hüfte abwärts verschmolzen mit einem Fahrrad. Eine Velozentaurin.“ Oder das Fahrzeug verwandelt sich in eine Beute des Menschen, wenn Walter in „Die Frequenzen“ mit dem Rad an einer Kreuzung balanciert: „Seine Füße kauten auf den Pedalen herum.“ Das sind, wie immer bei Setz, keine gesuchten Metaphern, sondern geschaute Bilder einer belebten Objektwelt.
 

6 Die Waage

Die Waage steht plötzlich im Hof eines Mietshauses, altertümlich, mit einem „Uhrengesicht“, so groß wie ein Kind und dennoch irgendwie monströs. Für den Helden, der für Frau und Kind und Nachbarschaft wenig zählt, ist sie Bedrohung, Verlockung und Obsession. Wer die Waage aufgestellt hat, ist nicht klar, aber jetzt sollen alle gewogen, vermessen, verbucht werden. In Zeiten flächendeckender Registrierung und Kontrolle liest man die Geschichte, für die Clemens Setz in Klagenfurt seinen ersten Preis bekommen hat, noch einmal mit anderen Augen. Am menschlichen Antlitz des Meßinstruments ist abzulesen, wie ein Schwankender endgültig aus dem Gleichgewicht gerät. Die Waage ist eines jener merkwürdigen Mischwesen zwischen Kind und Apparat, Ding und Mensch, Tier und Ding, die es dem Autor angetan haben, als Abgesandte einer anderen Wirklichkeit jenseits der Gesetze der Physik, als Stellvertreter des Unbegreiflichen. Zum Beispiel das „kleine Ungeheuer“ – was ist ein kleines Ungeheuer? – das „vorgeht“ und dem Uhrmacher, der es „neu eingestellt“ und erschreckt hat, mit der winzigen Klauenfaust droht. Denn das Unbegreifliche hängt von der Blickrichtung ab.
 

7 Die Elster

Von seinem „Elsterntum“ spricht der Autor in seiner Danksagung für „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. In der Tat schmückt Setz sich üppig mit fremden Federn und hat vor allem die postmoderne Praxis der Mottowahl zur Kunst erhoben. Dabei hat er keine Scheu davor, bisweilen seine eigenen Figuren zu zitieren, etwa Dr. Rudolph, den Schulleiter der Helianau, in „Indigo“ mit dem schönen, für unsere Ohren überzeugend klingenden Satz: „Mitunter gewöhnt man sich gegen alles.“ Weil er als Leser ein Vielfraß oder besser: ein Allesfresser ist, reicht der Bogen von Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“ bis  Robert Musil, von Empedokles bis Batman, von Konrad Bayer bis zu einer Studie über das Kommunikationsverhalten von Oktopussen. Diese Elster bedient sich nicht nur andernorts, sie schmuggelt auch Eigenes kuckucksmäßig in fremde Nester: Nicht selten finden sich vorgetäuschte Plünderungen, erfundene Fundstücke wie eine angebliche Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel. Clemens Johann Setz treibt Allotria mit seinen Lesern, Interpretinnen und der Philologie. Zuletzt hat er in „Bot. Gespräch ohne Autor“ schamlos sich selbst bestohlen – Recycling nennt das der nachhaltig wirtschaftende Geistesarbeiter. Und schließlich schämt er sich auch nicht für den einen großen Diebstahl des Künstlers beim Leben, wie ihn der „Warnhinweis“ in „Die Frequenzen“ unübertrefflich spitzfindig zusammenfaßt: „Alle realen Personen, die sich in den Figuren dieses Romans wiederfinden, werden durch den Akt der Identifikation zwangsläufig fiktiv und zu einem reinen Produkt meiner Fantasie.“
 

8 Das Telephon

„Dem tieferen anthropologischen Stellenwert von Telefonen“ widmet sich laut Nachsatzblatt der Roman „Die Frequenzen“, „vor allem der heute allgemein bekannten Tatsache, dass sie nicht nur kleine sprachgelehrte Spielzeuge sind, sondern auch so etwas wie Waffen darstellen, eine Art Degen, dessen Klinge im Lauf der Evolution verkümmert ist (...)“. Das klingt rätselhaft, und doch beinah verharmlosend, verfolgt man die messerscharfen Dialoge, die in dieser Literatur am Telephon geführt werden. Die Kapitulation vor dem Aneinander-vorbei-Sprechen lauert auch hinter dem verständnisvollen Ton, den etwa Elke gegenüber ihrer Schwester Monika anschlägt, die in einem Waggon des Wiener Riesenrades wohnt und eine ehrliche Einsamkeit dem samariterhaften Schwesternbesuch vorzieht. Auch der Protagonist in „Die Waage“ wird nie erfahren, warum seine Frau immer außer Atem ist, wenn er sie zu Hause erreicht. Er weiß nur, daß er ihr auf die Nerven geht. Das Telephon verkündet die Antwortlosigkeit der Welt. Für Alexander in „Die Frequenzen“ ist es in dem Kapitel „Solo für Nokia 6151“ ein Requisit, das es ihm ermöglicht, mit einer Frau zu reden, die gerade bewußtlos ist. Als einer von vielen getarnten Selbstgesprächsführern bewegt er sich durch Graz und denkt an eine Szene bei Camus, an einen Mann, der wild gestikulierend mit jemandem telephoniert, der das nicht sehen kann: „Warum lebt er?“. Für Natalie ist das iPhone unentbehrlich, nicht bloß als Gesprächswaffe, sondern als Nabelschnur zur Welt, es macht sie konsumierbar. Trotz aller digitalen Durchlässigkeit der Figuren erscheinen die Telephonapparate bei Clemens Setz merkwürdig altmodisch, da wird abgehoben, gewählt und aufgelegt. Eine Telephonkabine dient als Disziplinierungsort für unbotmäßige Indigo-Schüler, in der rotkarierten Mappe des Mathematiklehrers findet sich ein „Foto der einsamsten Telefonzelle aller Zeiten“, mitten in der Mojavewüste.
 

9 Die Weltmaschine

Die Weltmaschine als Miniatur – ohne Zweifel eine handwerkliche Herausforderung. Das Original steht im Schuppen des steirischen Bauern Franz Gsellmann, sein Lebenswerk – 2000 Einzelteile, Glühbirnen, Ventilatoren, Räder, Glocken, Vogelpfeifen etc. etc., auf Knopfdruck in Gang zu setzen. Einmal möchte der eine der beiden hypertrophen Väter in „Die Frequenzen“ mit dem anderen über die Idee der Weltmaschine sprechen, in der alles mit allem mechanisch und zugleich mirakulös verbunden ist. Alexander erscheint sie als „Vision meiner eigenen Zukunft“, und ganz offensichtlich ist sie auch ein Modell dieses Schreibens, in dem Verspieltheit und Stringenz, Rattern und Leuchten, Wucht und Witz einander die Waage halten. Die Kausalität der Motorik verträgt sich auf magische Weise mit der Gleichzeitigkeit des mannigfachen Geschehens. Ähnlich begeistert äußert sich der wunderliche Altenpfleger über Paul Klees „Zwitschermaschine“, die vier Vogelhälse mit einer Handkurbel bewegt und offenbar in fröhlicher Anarchie zwitschern läßt, sinnige Synthese von Mechanik und Natur. Auch die Weltmaschine, die der literarische Feinmechaniker Clemens Setz in seinen Romanen in Bewegung setzt und zum Klingen bringt, ist, was das „Lexikon der Jenseitsmythen“, also der Autor, über „Die Frequenzen“ sagt: „ein einziges, großes Liebesgeständnis an das nichtlineare Wesen der Zeit“.
 

10 Der Blitzeschleuderer

Die Statuette des blitzeschleudernden Zeus – mit dem Blitzbündel in der Hand – kündet von den Registern des großen Naturtheaters, die Clemens Setz auch zu ziehen versteht. Das gewaltige epilepsieanfallartige Gewitter („Grand Mal“), das sozusagen zwischen Natalie und den Mann tritt, den sie als Schutzgeist gegen einen subtil übergriffigen Klienten engagieren möchte, endet mit weit entfernten Blitzen, denen kein Donner mehr folgt, weshalb sie sich räuspern muß, „weil die Welt sonst aus dem Takt geriet“. Der Erzähler Setz lenkt die Wechselfälle des Geschicks durchaus mit einer gewissen Lust an Willkür und ironischer Fügung, wie sie aus Kleists Anekdote von dem „auf der neuen Promenade erschlagene(n) Arbeitsmann Brietz“ spricht. Der hatte einen Hauptmann Bürger geheißen, sich doch unter einen anderen Baum zu stellen, der, unter dem sie beide standen, sei „wohl zu klein für zwei“: „Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen anderen: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getödtet ward.“ Clemens Setz liefert seine einschlägige Meisteranekdote in Form eines Gedichts (in „Die Vogelstraußtrompete“):

Die Interpretation von Blitzen

Der US Park Ranger Roy C. Sullivan
aus Virginia
wurde siebenmal vom Blitz getroffen
Er verlor einige Zehen
war vorübergehend gelähmt
und sein Kopf stand zweimal in Flammen\

Der letzte Blitz traf ihn 1977
beim Fischen
Er überlebte nur knapp
1983 beging er Selbstmord
über den Verlust einer Frau
in einer dunklen Nacht
 

11 Die Visitenkarte

In der Erzählung „Die Visitenkarten“ sieht sich eine tüchtige Geschäftsfrau mit einer Art Beulenpest konfrontiert, die zunächst ihre Visitenkarten befällt, dann ihre Geldscheine, ehe sie das Phänomen an der Handtasche einer Passantin entdeckt. Clemens Setz war immer schon der ideale, nämlich kontrolliert nervöse Pandemie-Prophet und -Begleiter: Nicht nur mit dem Indigo-Syndrom, da ist auch das neue Nagetiervirus, von dem in „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ überall berichtet wird, oder Daniel Defoes „Tagebuch des Pestjahres“, das einem Protagonisten in „Söhne und Planeten“ zuverlässig hilft, nach einem beunruhigenden Schrumpfungsprozeß wieder zu wachsen. Daß es just die Visitenkarten sind, an denen sich die ersten Symptome der Zersetzung zeigen, bevor die Seuche den Blutkreislauf des Kapitalismus erfaßt, kommt natürlich nicht von ungefähr. Der Angriff auf Namen und Beruf zielt ins Zentrum der Person, auf ihr Definiertsein in der Gesellschaft. Als der berühmte Schriftsteller in „Die Vase“ seinen Zirkus in der Totenkammer veranstaltet hat, überreicht er dem Bestatter eine hellgrüne Visitkarte – die falsche, wie sich herausstellt. „Heribert Wolf, Lektor. Helian Verlag.“ – „Wolf, sagte der Lehrling. So heißt er nicht, nein.“ Was wollte der Autor uns damit sagen?  In „Die Bienen und das Unsichtbare“, seinem großartigen Essay über den Kosmos der Kunstsprachen, erzählt Setz die Anekdote von dem Mann, der von einem englischen Kapitän das Persische erlernt, in dieser Sprache zum Dichter wird und eines Tages draufkommt, daß das gar nicht Persisch ist, daß diese Sprache nur einen einzigen Sprecher hat. Auch was der alte Setz, das „Herzstück der Sammlung“, in seinem Gitterbett spricht, ist nicht verständlich. Das Werk des Kleistpreisträgers Clemens Johann Setz lehrt uns: Strenggenommen ist die Sprache der Kunst immer eine Kunstsprache, eine Privatsprache, an der wir uns ergötzen, ohne sie verstehen zu müssen.

Ich bin jedenfalls gespannt auf die „Nach-Meer-Periode“.


Grußwort: Günter Blamberger – Nachleben / Black Box*

Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder und Freunde der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft,
liebe Frau Strigl,
lieber Herr Setz,

der zwölfjährigen Sadako Sasaki hat die Kunst, Papierkraniche zu falten, nicht geholfen, ihr Leben zu verlängern, in Erinnerung jedoch ist sie geblieben – mit diesem Zeichen gegen den Tod und gegen den Krieg, stellvertretend für alle Opfer von Hiroshima. Warum aber sollte ein Tollpatsch, der betrunken vom Dach fällt, ein Recht auf ein Nachleben haben, auf fortwährende Erinnerung? Ist es nicht kurios, dass Homer in einem Heldenepos wie der Odyssee Elpenors Unglücksfall gleich zweimal erzählt? Und Clemens Setz in seiner Erzählung von Elpenor betont, dass niemand wissen könne, wie viele Grabdenkmäler es für Elpenor noch brauchen werde, weil seine »Ängstlichkeit«, in Vergessenheit zu geraten, »durch ein Unendliches gegangen« sei. Nicht die »Erkenntnis«, wie es bei Kleist im Essay Über das Marionettentheater im Unterschied dazu heißt. Laut Homer ist Elpenor weder »mit Tapferkeit« noch »mit Verstand« gesegnet, also ganz der Gegensatz zu Odysseus und zu den grandiosen Helden, die Odysseus in der Unterwelt noch treffen wird. Elpenor bekommt im Totenreich vor aller Prominenz allerdings den ersten Auftritt, und Odysseus verspricht ihm ein Grabmal. Aus »Mitleid«, so Homer. Auf einem Kalkfelsen, der ins Tyrrhenische Meer hineinragt, soll es gewesen sein, dem Monte Circeo, wie Archäologen vermuten. Nur eines allerdings, keinesfalls »an die hundertfünfzig« schon um das Jahr 300 n. Chr. in ganz Europa, wie es bei Setz heißt. Die Völker damals zwischen Rhein und Ural ­– Langobarden, Markomannen, Vandalen, Gepiden ­– sorgten sich nicht um Elpenors »Ängstlichkeit«, wohl aber Clemens Setz. Er zitiert auch noch Theophrasts Pflanzenbuch, um eine Myrte auf Elpenors Grab wachsen zu lassen, als immergrüne Pflanze ein Sinnbild in der Antike für eine über den Tod hinausgehende Liebe.

Bei Homer ist Elpenor Nebendarsteller, er dient dazu – so hat es Jean Giraudoux in seinen Erzählungen von Elpenor und Odysseus gedeutet – die »Halbwelt des Heldenepos von ihrer jämmerlichen Kehrseite« zu zeigen. Bei Setz ist Elpenor Hauptdarsteller. Er nimmt Elpenors Ängstlichkeit und Bitte ernst, so wie er alle Figuren seiner Prosa ernst nimmt, die stellvertretend für ihn und uns leiden, hoffen oder lieben. Vor allem leiden. Setz hat ein Faible für Verlierer, Ausgegrenzte, Kranke, Antihelden. Er ist auf ihrer Seite. Es ist kein Zufall, dass er Kleists Besuch des Würzburger Spitals für die heutige Lesung ausgewählt hat. Kein Zufall auch, dass in der Logik seiner Erzählung von Elpenor nicht nur Elpenors Ängstlichkeit, sondern auch die Erinnerung an ihn, das Mitleid mit ihm »durch ein Unendliches« gehen. Das ist unrealistisch, aber tröstlich für alle Sterblichen, die keine Helden sind. Damit handelt diese kleine Geschichte auch von den Wunschherrschaften der Literatur, von der Macht poetischen Denkens, Illusionen zu schaffen, die man zum Überleben braucht, auch wenn sie nicht lebbar scheinen. Auf philosophische Appelle verzichtet Setz dagegen. Aus Elpenors Zufallstod wird kein ›memento mori‹ an die Leser angesichts der eigenen Sterblichkeit ihr begrenztes Dasein in jedem Lebensaugenblick sinnvoll zu gestalten.

Geraucht hat Kleist sicher, den Vorwand, Zigaretten zu holen, um sich von seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge davonzustehlen, jedoch nicht gebraucht. Am 14. August 1800 verschwindet er aus Frankfurt/Oder, die Kutsche rollt im »Halbdunkel des Morgens« an Wilhelmines Haus vorbei. Wilhelmine wird ihn nie mehr wiedersehen und seine Flucht nie verstehen können. Aus dem Zweck seiner Reise macht er ein Geheimnis, über das bis heute alle Kleist-Philologen rätseln. Immer wieder wollte Kleist abhauen, wie Setz’, Zigaretten-Flüchtlinge sogar einen Tunnel ins Erdreich graben, nicht unter der Erde wie bei Setz, sondern durch die Erdmitte, um zu den Antipoden nach Australien zu gelangen. Und weil es im Erdinneren flüssig werden würde, entwarf er dafür in Königsberg sogar ein U-Boot. So phantastisch das bei Kleist in der Realität und bei Setz in der Fiktion ist, eigentlich geht es ja nicht darum, wie, sondern warum jemand so plötzlich sein bisheriges Leben hinter sich lässt, statt es kontinuierlich und vertrauensvoll für alle fortzusetzen. Psychologische Erklärungen dafür sucht man bei Kleist wie bei Setz allerdings vergeblich. Kleist hat Physik studiert, Setz Mathematik, das merkt man ihren literarischen Experimentieranordnungen an. In Kleists Worten: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.« Dass Kleist wie Setz sich auf kühnste Metaphern verstehen, weiß man. Nach welchen Formeln aber funktioniert Kleists, nach welchen Algorithmen Setz’ Logik der Dichtung?

Bei Kleist ist es das Gesetz der Kontaktelektrizität: Demnach verhalten sich Menschen in ihren Anziehungs- und Abstoßungskräften wie elektrische Körper. Wenn einer einen anderen treffe, so wird – so Kleist – »sein Wesen gänzlich in den entgegengesetzten Pol hinübergespielt; er nimmt die Bedingung + an, wenn jener von der Bedingung -, und die Bedingung -, wenn jener von der Bedingung + ist.« Dieses gegensätzische Prinzip macht laut Kleist das ganze Leben zu einem Kampf mit wechselnden Partnern, wobei die Schwäche des Einen zur Stärke des Anderen werden und jeder neue private oder berufliche Partner einen qualitativ je anders auf- oder entladen kann. Damit ist jede idealistische Hoffnung auf eine lebenslang stabile Identität dahin. Man wird in seinen Eigenschaften abhängig von dem, den man gerade trifft. Aus dem Polaritätsprinzip gewinnt Kleist auch eine Antipädagogik und schlägt in den Berliner Abendblättern vor, »Lasterschulen« zu gründen, damit die Schüler, im Widerspruch zu ihren liederlichen Lehrern tugendhaft würden. Und damit sind wir wieder bei Setz. Die Geschichte von den Männern, die Zigaretten holen und verschwinden, die auf so unheimliche und plötzliche Weise ihre Identität wechseln, steht in seinem Roman Indigo, der von einem Internat in der Steiermark handelt, von Helianau, in dem Kinder mit einer seltsamen Aura unterrichtet werden. Wer länger in der Nähe der Kinder ist, wird physisch und psychisch krank. So bewegen sich die Kinder zwangsweise in räumlich streng abgegrenzten Zonen. Abstandswahrung ist das oberste Gebot. Eine Romanfigur, ein Mathematiklehrer namens Clemens Setz, missachtet diese virale Geometrie, um das Geheimnis der Kinder zu ergründen, mit für ihn fatalen Folgen.

Das Gegenüber als black box und das Böse als ein Virus, das unsichtbar im Inneren eines Menschen wirkt und andere ansteckt. Oder als elektronischer Roboter sich ins Hirn einschleicht. Es gibt bekanntlich schädliche Bots, Computerprogramme, die unsere Netzwerkkommunikation ausspionieren, uns mit spams und angeblich passgenauen Werbungen zumüllen, es gibt virale Figuren der Steuerung in den social media, Verleumdungen und Hassbotschaften, die Menschen plötzlich aus ihrem bisherigen Leben reißen. Es gibt aber auch nützliche Bots, wie Clemens Setz in einem Selbstversuch demonstriert hat. Im Buch ›Bot. Gespräch ohne Autor‹ wertet künstliche Intelligenz vorgeblich Texte von Setz aus, und antwortet so auf Interviewfragen. Ein-Clemens-Setz-Bot, die ausgelagerte Seele des Autors, wie es im Klappentext heißt. Kann man so das Verstehen sichern? Missverständnisse vermeiden? Von der Kontrolle der Kommunikation träumen auch die Erfinder von Plansprachen wie Esperanto, Volapük oder Blissymbolics in Setz’ letztem Buch Die Blumen und das Unsichtbare. Setz zeigt, dass ihr Verlangen nach Eindeutigkeit, nach ›pure meaning‹ sie einsam macht, manchmal auch herrschsüchtig, und entfaltet zugleich den Klang- und Konnotationsreichtum ihrer Gedichte. Als Sonderlinge hätte man sie früher bezeichnet. Setz porträtiert sie liebevoll, er ist, anders als Kleist – Pardon – kein hochmütiger Autor, ein Verteidiger des Kleinscheinenden, auch in kleinen und populären Formen, in täglichen Tweets, in denen er seine Stimme den Stimm- und damit Rechtlosen leiht, vor allem Tieren, Hasen, Ziegen oder wie zuletzt in der Büchner-Preisrede Pferden. Oft witzig, aber die Verzweiflung dahinter ist in seinen Texten immer spürbar. Vermutlich auch für die »geheimnisvolle Frau«, die während einer Lesung »leise aufsteht und geht«, wie in dem Gedicht aus dem Band Vogelstraußtrompete, das Sie gerade gehört haben. Mich hat ihre Reaktion an die des Zirkusbesuchers in Kafkas Erzählung Auf der Galerie erinnert, der das brüchige Glück der Kunstreiterin durchschaut oder »wie in einem schweren Traum versinkend, weint, ohne es zu wissen«, während das Publikum ihrem »großen Salto mortale« applaudiert.

Die Seele, das Herz auszulagern, davon träumte auch Kleist. Im März 1803 schrieb er an seine Schwester: »Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leib reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschiken. – Dummer Gedanke.« Zweifellos. »Seelen lassen sich nicht berechnen«, so warnt Prothoe Achill. Vergeblich, er fällt Penthesilea zum Opfer, weil sie Küsse und Bisse verwechselt. Die Erkenntnisunsicherheit ist der Katalysator von Kleists Dramen und Erzählungen. Jeder Mensch bleibt für ihn eine black box, nicht nur die Insassen der Würzburger Heilanstalt, deren Verhalten Kleist schildert, ohne dabei in ihr Inneres zu dringen. Es geht natürlich auch anders, was Kleist am eigenen Leib erfahren hat. Heute ist Kleists 210. Todestag, und zugleich Totensonntag, der letzte Sonntag vor dem ersten Advent, den Friedrich Wilhelm III. per Kabinettsorder 1816 zum Tag alljährlicher Erinnerung an die Verstorbenen bestimmte. Um die Gefallenen der Befreiungskriege zu ehren, im Gedenken an Preußens Lady Di, seine 1810 verstorbene Gattin Luise, und andere ihm wie seinen Untertanen teure Tote, zu denen Kleist für den König nicht gehörte. Kleists Freund Peguilhen verbat der König »den Mißbrauch« öffentlicher Blätter für eine Verteidigung des Selbstmords, und die Ärzte mit den seltsamen Namen Dr. Sternemann und Greif, die Kleist obduzierten, waren dem König gleichfalls zu Willen. Unmittelbar nach der Leichenschau am 22. November 1811 notierten sie noch, dass Kleists innere Organe im »Normal Zustande« waren. Den Kopf hatten sie auch aufgeschnitten, das Gehirn schichtweise zerlegt, ohne etwas Krankhaftes zu entdecken. Im finalen Obduktionsbericht griffen sie deshalb auf die antike Humoralpathologie zurück, und dichteten Kleist »viel verdicktes schwarzes Blut« und »viel verdikte Galle« an, um daraus einen »excentrischen« bzw. »kranken Gemüthszustand des Denati« abzuleiten. Kleists Person und Werk haftete von nun an das Stigma des Krankhaften, Heillosen an, Goethes »Schauder und Abscheu« vor diesem Dichter taten ein Übriges, Kleist geriet für Jahrzehnte in Vergessenheit und fand in der Unterwelt lange Zeit niemanden, bei dem er sich darüber hätte beschweren können.

Es waren die Schriftsteller der Moderne, die Anfang des 20. Jahrhunderts wieder an Kleist erinnerten: Kafka, Wedekind, Schnitzler, Hofmannsthal, Dehmel, und Regisseure wie Otto Brahm und Max Reinhardt, hier vom Deutschen Theater. Sie halfen auch, den Kleist-Preis zu stiften, der seit 1912 ein Doppelporträt ist, in dem sich Namensgeber und Preisträger spiegeln, so wie in den Lesungen heute die ineinander verfugten Texte von Kleist und Setz. Der Erfolg des Kleist-Preises verdankte sich immer der Urteilskraft der Vertrauenspersonen, die in alleiniger Entscheidung die Preisträger bestimmten. Preisträger wie Bert Brecht, Robert Musil, Else Lasker-Schüler von 1912 bis 1932, wie Heiner Müller, Ernst Jandl, Herta Müller, Gert Jonke, Yoko Tawada oder Christoph Ransmayr nach 1985. Clemens Setz gehört jetzt zu ihnen, mit Recht. Daniela Strigl hat ihn ausgewählt. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich im Namen der Jury. Mein Dank hier müsste ausführlicher ausfallen, stattdessen verweise ich auf die Laudatio, die Lothar Müller, der heute unter uns ist, anlässlich Ihrer Auszeichnung mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis 2019 gehalten hat, in der sie so wundervoll kenntlich werden. Man findet sie auf der Website der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Besser geht’s nicht. Für die großzügige Förderung des Kleist-Preises danke ich sehr herzlich dem Bund und den Ländern Berlin und Brandenburg wie der Holtzbrinck-Publishing Group, im Besonderen Stefan von Holtzbrinck. Elke Vogel vom BKM ist es zu danken, dass sie es gegen alle Bürokratie ermöglichte, den Kleist-Preis 2020 zu zahlen und 2021 zu verleihen. Sie hat uns allen damit den Blick in die öden Kachelbilder eines Webinars erspart, leider nicht dem Preisträger heute. Eine Besonderheit der Kleist-Preis-Verleihung ist ja, dass über die Preisträger in Anwesenheit ihrer Texte gesprochen wird, dass ihre Texte Gehör finden. Wie faszinierend und zugleich beunruhigend das ist, haben wir heute wieder erleben dürfen, dank der Interpretationskunst der Schauspieler und Musiker des Deutschen Theaters. Für die Inszenierung hat Bernd Isele gesorgt. Ganz herzlichen Dank dafür. Ein ebenso herzlicher Dank gilt Dr. Björn Moll, der den Kleist-Preis seit Jahren so vortrefflich organisiert, sowie David Gabriel, der ihn nicht nur heute unterstützt hat. Der Suhrkamp-Verlag hat den Empfang aufgrund der hohen Infektionszahlen verständlicherweise abgesagt. Auf Gespräche nach der Verleihung im Foyer müssen Sie deshalb nicht verzichten, es gibt dort auch eine Bar und vor allem einen Tisch mit den Büchern von Setz. Vermutlich fürchten Sie im Augenblick, dass auch mein Grußwort durch ein Unendliches geht. Ich bitte um Nachsicht. Es ist das letzte nach 25 Jahren in der Verantwortung für die Preisverleihung als Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft. Sie dürfen hoffen, dass die Grußworte in Zukunft kürzer ausfallen. Lassen Sie mich zuletzt den Mitgliedern unserer Gesellschaft danken, die mir so lange ihr Vertrauen geschenkt haben, und Ihnen allen, dem Berliner Publikum, dass Sie den Preis so wunderbar angenommen haben. Seit 20 Jahren ist er hier in Berlin zuhause. »Poesie ist die Suche nach Glanz«, heißt es in einem Vers des kürzlich verstorbenen polnischen Dichters Adam Zagajewski. Suchen wir weiter danach, zusammen mit den Dichtern und Schauspielern hier, auch in den nächsten Jahren. Es ist ein großes Glück. Langweilig wird es mit Kleist und den Kleist-Preisträgern nie werden.

 

*Die Rede bezieht sich auf folgende während der Preisverleihung von Schauspielern vorgetragenen Texte: Clemens Setz, Elpenor. In: Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Berlin: Suhrkamp, 2019, S.215-217; Ders., Indigo. Roman. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2. Aufl. 2015, S. 110-112 (= Kap. 6 Zigaretten holen) sowie Kleists Würzburger Brief an Wilhelmine vom 13. und 14. September 1800 (DKV IV, S.117-121).


Yoko Tawada verlieh den Kleist-Preis 2019 an Ilma Rakusa

In einer feierlichen Veranstaltung im Deutschen Theater Berlin am 24. November 2019 wurde der Kleist-Preis 2019 an Ilma Rakusa verliehen. Die Laudatio hielt die Schriftstellerin Yoko Tawada, die als Vertrauensperson der Jury Ilma Rakusa zur Preisträgerin bestimmt hatte. Yoko Tawada war 2016 selbst mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet worden.


Günter Blamberger: Das Leben neu buchstabieren

Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Ilma Rakusa am 24. November 2019 im Deutschen Theater Berlin

Sehr verehrter Herr Botschafter Dr. Seger, sehr verehrte Frau Dr. Zeddies, Frau Bückmann und Frau Knoch, liebe Mitglieder und Freunde der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, lieber Herr Khuon, lieber Herr Isele, liebe Yoko Tawada, liebe und heute zu ehrende Ilma Rakusa,

einen Spiegelbrief haben Sie am Anfang dieser Matinée gehört. Kleist porträtiert Henriette, Henriette porträtiert Kleist, und das ist über die Maßen schön, zärtlich und spöttisch zugleich, ein Katalog, in dem alle Liebenden der Welt blättern könnten, die um Kosenamen verlegen sind, um dabei einzusehen, dass sie auf das Benennen des anderen vielleicht lieber verzichten sollten: Mein Jettchen, mein Herzchen, meine Eingeweide, mein Trauerspiel, mein Schutzengel – Mein Heinrich, mein Schoßkindchen, mein Graf Wetter, mein Werther, mein Erzdichter, meine Nerven...Die beiden treiben es ziemlich bunt mit ihrer Liste, die im Prinzip unendlich verlängerbar ist. Um den Übertritt ins Unbegrenzte geht es ihnen allerdings in diesem Augenblick, in der Nacht vor ihrem gemeinsamen Tod am 21. November 1811, in ihrem ersten wie letzten gemeinsamen Quartier, im Gasthof Stimming, der an der Brücke lag, die den Zufluss vom Kleinen zum Großen Wannsee überquert. Man könnte sich vorstellen, dass sie Zimmer an Zimmer oder Schreibtisch an Schreibtisch einander zuriefen und schrieben, so heiter und verspielt, ja „außerordentlich vergnügt“, wie es ihre Wirtsleute tags darauf von ihrer Todesstunde bezeugen: Hand in Hand seien sie zum See hinuntergesprungen, tanzend, schäkernd und sich jagend. Wenig später zwei Schüsse, Kleist erschießt Henriette, dann sich selbst. Ein Rätsel, der Nachwelt als Frage aufgegeben, eine der vielen offenen Fragen in Kleists Leben und Werken, die nicht aufhören, weh zu tun, und deshalb bis heute im Gedächtnis bleiben. 

So erwartet man von letzten Worten doch Wahrheit, keine Dichtung, und schon gar kein galantes Maskenspiel mit Kosenamen wie im Spiegelbrief der beiden Todes-bereiten. Die Ausgangsfrage, die ihr Spiel in Gang setzt, ist schon Zitat, einem gänzlich verwirrten Manne nachgestellt, Graf Wetter vom Strahl aus dem Käthchen von Heilbronn: „O du --- wie nenn ich dich? Käthchen! Warum kann ich dich nicht mein nennen? Käthchen, Mädchen, Käthchen!“ stammelt der Graf, und Kleist wiederholt das in seinem Brief an Henriette: „o, liebste wie nen ich Dich? und setzt vor jedem Kosenamen dann das Possessivpronomen „mein“. Als wäre das harmlos, als erinnerte er sich nicht an den zweifelhaften Ausgang seines Ritterschauspiels. Kleists Käthchen fällt nach der Hochzeit in Ohnmacht, als sie begreift, warum und wie sie ihr Traummann in Besitz genommen hat. Staffel zwei von Kleists Käthchen könnte denn auch Ein Puppenheim heißen, aus der die Dame am Ende mit großer Konsequenz verschwindet: Ibsens Nora, weil Helmer, ihr Herr und Mann, sie nicht nur permanent „mein Singvögelchen“ nennt, sondern auch wie ein kleines zwitscherndes Haustier behandelt. 

Wie erkenne ich Dich, wie nenne ich Dich, was ist der rechte Name, der das besondere, unvergleichliche Wesen des anderen bezeichnet – das ist eine alle Liebenden bewegende, ja gefährliche Frage, die Kleist und Henriette in der Übertreibung ihrer Anrufungen, durch die Erfindung immer neuer Kosenamen ad absurdum führen. Der andere ist unverfügbar, heißt das, und gerade in der Respektierung dieser Grenze ereignet sich Wahrheit, fallen Galanterie und authentische Herzenssprache, Fremdheit und Vertrauen in eins. Der gegenseitigen Achtung korrespondiert denn auch die Symmetrie ihrer Briefe.  

Bezug statt Besitz. Davon handelt auch das wunderbar wahrhaftige Gedicht Ilma Rakusas, das Sie gerade als letztes gehört haben: „Zärtlichkeit kann man nicht lernen./ Zärtlichkeit geschieht.“  Zärtlichkeit geschieht: „Wenn du den Haarsaum des Kindes streichelst/ Wenn du tastend übers weiße Papier fährst./ [...] Wenn du die Erinnerungen nicht ad acta legst/ [...] Wenn du Gäste willkommen heißt, auch die zufälligen“. So heißt es am Ende einer Aufzählung, die so offen ist wie Kleists und Henriettes Namensspiel und offen bleiben soll, weil das Gedicht auf „zufällige Gäste“ hofft, auf Leser, die die Liste fortsetzen. Inhalt und Form, Ethik und Ästhetik sind hier kongruent, denn Zärtlichkeit ist Hingabe, Verausgabung, Anökonomie. Sie ist gegen alles Besitzdenken gerichtet, sie rechnet nicht und lässt sich nicht berechnen, wie dieses Gedicht Vers für Vers für Vers für Vers in seiner Poetik des Enumerativen. 

„M’illumino/ d’immenso“, „Ich erleuchte mich/ Durch Unermessliches“, so hat Giuseppe Ungaretti die Funktion der Poesie einmal bestimmt. Seine Verse könnten als Motto auch über dem ersten Text stehen, den Sie heute von Ilma Rakusa gehört haben: „Lied“ genannt: „Wie lange dauert der Schneerausch/ wie lange das Staunen der Nacht/ [...] wie lange lenkst du ein Kind/ [...] /wie lange stehst du im Mantel/ und wartest auf eine Hand/[...]“. Wieder eine Aufzählungsform, bei der man das Zählen verlernen soll, wieder ein Exempel dafür, dass Ilma Rakusa eine poeta docta, ihr Schreiben ästhetisches Denken ist, ein Denken in und durch die Formen von Poesie und Prosa, das, anders als das diskursive Denken der Wissenschaften, auch die Bereiche des Unbegrifflichen zu erkunden versucht, die ihr und unser aller Leben bestimmen. Schweizer Uhren sind bekanntlich die besten der Welt, mit ihrer Hilfe aber wird man die Fragen von Ilma Rakusas Lied nicht beantworten können: die Fragen nach der inneren Zeit, die in Minuten und Sekunden nicht messbar ist, nach der Dauer von Freude und Trauer, nach den Zufällen epiphanischer Augenblicke, in denen man glaubt zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, oder dem kairos, in dem man die Gunst des Schicksals beim Schopfe gepackt oder verpasst hat. „Wie lange/wie lange/wie lange“ – Solche Refrains von Worten oder Versen kennt man von Liedern. Ästhetisches Denken gestaltet sich hier in der Form der Wiederholung, die Kierkegaard einmal ein Einholen des Ewigen ins Zeitliche genannt hat und ein andermal ein Erinnern nach Vorwärts. Die Antworten der Leser auf die Fragen dieses Liedes könnten nach und nach einsetzen wie die Stimmen eines Kanons, in dem Wiederholung und Neuanfang zusammenfallen. 

Ilma Rakusa versteht es meisterhaft, Freiräume für die Teilhabe ihrer Leser zu öffnen, obgleich ihre Dichtung häufig autofiktional ist, auf sehr persönliche Erlebnisse und Erfahrungen zurückgeht. „Immer wieder der Versuch, Licht in Worte zu fassen.“ So heißt der erste Satz ihres Denkbilds Licht, dann folgt ein Gang ins eigene Archiv, der diskret ist, der alles Bekennen und Erklären vermeidet, so dass die Lebensorte sogleich zu Orten der Literatur werden, zu Topoi, zu Punkten eines impressionistischen Spiels mit dem Licht von Sarajevo, Paris, Kyoto, Marrakesch, das Lücken lässt, Zwischenräume für die Einbildungskraft des Lesers. Licht stammt, wie alle Texte der Matinée heute, aus Ilma Rakusas jüngstem Buch Mein Alphabet. Es enthält neben Lyrik und Prosa auch Gespräche, ist wieder Dichtung und Wahrheit zugleich, folgt aber nicht dem Kausal- und Finalnexus einer Biographie, sondern dem Register des ABC, das alles bei- und nichts unterordnet, bei jedem Buchstaben offen ist für eine wechselnde Zahl von Einträgen. Januar Japan Joghurt. Provence Pantoffeln Publikum Prinzessin, Prinz Plausch Pappeln Poetik Palatschinken, Pasta. So heterogen wie verführerisch lesen sich die Zwischentitel. Ilma Rakusa sammelt Augenblicke, sie gelten dem, was zu gestalten am schwierigsten ist: dem Besonderen, Konkreten, in aller Gegensatzfülle des Wirklichen, auch in Städtebildern wie Ljubljana, die die wechselvolle politische Geschichte Jugoslawiens bzw. Sloweniens nicht beschönigen, vor allem aber das vorgeblich Kleinscheinende gross machen: die magischen Orte der Kindheit und die Stimmen der teuren Toten, der Schriftsteller-Freunde. 

Böhmen liegt am Meer, davon haben Ingeborg Bachmann wie Shakespeare im Wintermärchen einmal geträumt, und von Menschen, die „unverankert“ sind. Ilma Rakusa gehört zu ihnen. Als „schreibende Nomadin“ hat sie sich einmal bezeichnet. Mehr Meer heißt ihr wohl bekanntestes Werk von 2009, in dem sie die vielen Länder, in denen sie aufgewachsen, in die sie gereist ist, an ein sie verbindendes Meer begnadigt und ihre Erinnerungsorte und Erinnerungsmenschen freizaubert – mit Hilfe einer Poetik des Dazwischen, des Transnationalen, die von der Vielfalt und dem Reichtum der Kulturen Europas inspiriert ist und diese fortzuschreiben weiß. Vielstimmigkeit ist der Katalysator ihrer Kreativität, als Übersetzerin wie als Autorin. Der Grundton ihrer Lyrik, ihrer Prosa aber ist unverkennbar der des Memento, der Melancholie, die keine Sentimentalität, kein bloßes Gefühl ist, sondern intellektuelle Haltung, die Fähigkeit, im Vergangenen und Vergessenen den Funken der Hoffnung wieder anzuzünden. Ihre Dichtung ist ein Erinnern nach Vorwärts. Was Ilma Rakusa über Inger Christensens Gedicht Alphabet einmal gesagt hat, gilt ebenso für ihr eigenes Werk: Mit  ihm „buchstabieren wir das Leben neu“. 

Es ist ein Glück, Ilma Rakusas Werke zu lesen, und dankbar darf man, darf die Jury, darf die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft auch sein, dass eine Kleist-Preisträgerin und Kosmopolitin wie Yoko Tawada, die – so der Titel eines ihrer Werke – in Überseezungen zu sprechen versteht, eine ihr Wahlverwandte ausgewählt hat. Bei Preisen mit berühmten Namensgebern werden ja immer zwei gefeiert: der Namensgeber und die gerade Ausgezeichnete, auf die der Glanz des vergangenen Dichterfürsten fällt. Es gilt jedoch auch die Umkehrung. Das vergisst man manchmal, und dann lehrt es erst die Zukunft. Mit Ilma Rakusa, mit Yoko Tawada ist Kleist selbst als vielstimmiger und „nomadischer Dichter“ zu entdecken. Ihn aufgrund der Herrmannsschlacht als Sprachrohr nationalen Denkens zu vereinnahmen, wie es während der Nazizeit, in der DDR und leider heute wieder in Tweets der Identitären um der Definition einer neuen, rechten deutschen Leitkultur willen geschieht, war im-mer schon falsch. Die Herrmannsschlacht ist vielmehr ein Propagandastück, das sich selbst aufhebt. Es zeigt die Trostlosigkeit einer Welt, in der Unwahrheit und Unmenschlichkeit keinen Widerspruch mehr von Seiten einer moralischen Autorität hervorrufen. Kleist taugt nicht zum völkischen Dichter. Am 21. November 2011, sei-nem 200. Todestag, fand ein world-wide-reading day statt, bei dem in 148 Städten auf allen fünf Kontinenten Kleist gelesen wurde, vorwiegend von jungen Leuten, wie man im Internet sehen konnte und zum Teil noch heute sehen kann. Sie teilten und teilen mit ihm die Erfahrung einer Umbruchs-, einer Krisenzeit, die Erfahrung des Prekären, Nicht-Gesicherten, Nicht-Stabilisierten, die allen seinen biographischen wie literarischen Experimenten zugrunde liegt, ebenso wie ein ungeheures Glücksverlangen.

Der Kleist-Preis wurde von einer vorwiegend von jüdischen Intellektuellen finanziell wie ideell getragenen Stiftung begründet, bis 1932 galt er als der erste Preis der Weimarer Republik, dann löste ihn die Kleist-Stiftung auf, damit er nicht in die Hände der Nazis fiel. 1985 begründete ihn die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft wieder, um Vergangenheit und Gegenwart erneut im Namen Kleists zu verbinden, das Eingedenken an Kleists Werke und die Würdigung deutschsprachiger Gegenwartsdichtung. Einholen des Ewigen ins Zeitliche, Erinnern nach Vorwärts, das war und ist auch unsere Aufgabe, die wir nur bewältigen können durch die über Jahrzehnte gewährte großartige Hilfe der Holtzbrinck Publishing AG, der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien, der Berliner Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten sowie des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg. Ich freue mich, den Dank wieder persönlich adressieren zu können, an Frau Dr. Zeddies und Frau Bückmann. Zu danken ist weiterhin den Schauspielern Maren Eggert und Alexander Khuon, den Musikern Philipp Beckert und Erez Ofer, dem Dramaturgen Bernd Isele und dem Intendanten des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, der Verlegerin Annette Knoch sowie Dr. Björn Moll, meinem Kölner Mitarbeiter, dass sie die heutige Matinée so lebendig arrangiert und die Wünsche der Preisträgerin wie der Gesellschaft so großzügig erfüllt haben. Letzteres gilt auch für die Schweizer Botschaft. Herrn Dr. Seger darf ich herzlich für den Empfang danken, den er allen Ehrengästen nach der Preisverleihung gewähren wird. Aber jetzt dürfen wir uns erst einmal auf die Laudatio von Yoko Tawada freuen. 

Nach oben


Yoko Tawada: Laudatio für Ilma Rakusa

Anfang der Neunziger Jahre begegnete ich Ilma Rakusa zum ersten Mal in einem der schönsten Dreiländerecke der Welt: in Graz. Es waren nichts weiter als Weinblätter, die eine germanische Sprache von einer slawischen und einer finnougrischen Sprache trennten. Trennen? Vielleicht sollte man besser sagen: verbinden. Außerdem sollte ich lieber "Dreispracheneck" sagen, denn im Wort „Dreiländereck“ ist das Wort „Länder“ zu viel. Aber selbst das Wort "Dreispracheneck" ist nicht ausreichend. Wieso nur drei? Alle Menschen bringen eine oder mehrere zusätzliche Sprachen mit sich, vermischen zwei Sprachen miteinander und schaffen eine dritte Sprache. Oder sie schweigen mehrsprachig und träumen in den Sprachen, die sie nie gelernt haben. Die Sprachen sind unzählbar.

Damals in Graz gab Rakusa nicht nur eine Lesung aus ihren eigenen literarischen Texten, sondern stellte einen französischen Autor vor, und es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass sie eine deutschsprachige Dichterin aus der Schweiz ist, die aus dem Französischen, Russischen, Ungarischen und weiteren, europäischen Sprachen übersetzt. Es war das erste Mal, dass ich eine waschechte Europäerin erlebte. Damit möchte ich keinen Unterschied zwischen einer falschen und waschechten Europäerin machen, sondern ich nehme das Wort "waschecht" ernst und sehe vor Augen, wie die Textilien ihrer Texte durch das Wasser vieler Sprachen gewaschen worden sind. Wie kommt sonst dieser zarte, fast durchsichtige und kraftvolle Glanz in ihre Sprache?

Die Dichterin, die ich in Graz kennenlernte, hatte schon lange, bevor „Europa“ zum Modethema wurde, praktiziert, eine Europäerin zu sein.

In den letzten Jahren wunderte ich mich oft darüber, dass sich so viele Menschen – unter ihnen auch viele muskulöse, tätowierte, zum Teil bewaffnete Männer – vor einem Gespenst Europa fürchten. In Rakusas Prosa hingegen begegne ich immer wieder jener zierlichen Mädchenfigur, die ohne jede Furcht in einer unendlich offenen Welt unterwegs ist. Sie verschlingt Kinderlieder, Märchen, Landschaften und Menschengesichter mit Neugierde. Ihr Blick auf die Menschen ist respektvoll distanziert, aber keineswegs kalt. Manche Personen, die sie beschreibt, tragen sichtbare und unsichtbare Wunden, die ihnen ein Krieg oder der Kampf gegen eine Diktatur zugefügt haben. Ich denke oft an „Onkel Misi“ aus „Mehr Meer“, als wäre er mein Verwandter. Das Mädchen begegnet jedem Menschen ohne Vorurteile und sucht sorgfältig treffende Wörter, um ihn zu skizzieren. Sie nimmt sich die Zeit, die sie dafür braucht – genau wie eine Übersetzerin, die langsamer liest als eine gewöhnliche Leserin. Auch Musik ist für sie nicht etwas, was man schnell konsumiert. Stattdessen studiert sie Melodien und Akkorde geduldig mit ihren Fingern. Es gibt keine langsamere Art, Musik zu genießen als sie zu üben, bis man sie selber spielen kann. Die Stunde des Musizierens mit einem Jungen ist mit der der Liebe verbunden oder besser: Musizieren könnte eine Form der Jugendliebe sein. Das Mädchen kennt nicht die Geschwindigkeit, mit der heute schnell eine Menge Daten digital gesammelt und analysiert wird. Sie entwickelt sich anders schnell, denn in ihren jungen Jahren wurde sie schon vollkommen reif für die moderne Musik und zeitgenössische Literatur. „Langsamer!“ ruft uns die Autorin in ihrem Essayband zu. Wer ihn gelesen hat, versteht die kostbare Langsamkeit, die die Lektüre eines poetischen Textes von uns verlangt. Hochwertige Wörter brauchen Zeit, damit Assoziationsketten aufhören, Ketten zu sein und einen Raum gewinnen, in den persönliche Erinnerungen der Leserinnen mit literarischen Figuren zusammenwachsen. Eine extrem langsame Form der Lektüre ist die Übersetzung. Jedes Wort verweist auf mehrere Wörter, mögliche Zukunftsfiguren. Eine Übersetzerin hält alle denkbaren Wege offen, bleibt weiter auf der Suche und doch muss sie sich am Ende für ein Wort entscheiden. Es gibt keine Antwort, aber doch so etwas wie eine Verantwortung.

Rakusa bleibt auch in ihrem dicken Buch „Mehr Meer“ schlank, liefert keinen Berg der Formulierungen, der sich am Ende doch kurz zusammenfassen lässt. Je minimalistischer der Text, desto unzähmbarer die Sprache.

Eines meiner Lieblingsbücher ist „Jim. Sieben Dramolette“. Das Wunder eines Dialogs. Eine Bühnenkunst, die ich noch nie so gesehen habe. Neue Sprachrhythmen für das Theater. Eine Serie von Denkübungen.

Auch ich gehöre zur internationalen Gruppe der Autoren, die vor dem 18. Lebensjahr die Droge namens Dostojewski zu sich nahm, dadurch von der Literatur abhängig wurde und später seinen Kontrapunkt, Anton Tschechow, zu schätzen begann, ohne die erste Liebe zu Dostojewski zu verraten. In Rakusas neuem Buch „Mein Alphabet“ finde ich den Namen Tschechow zwischen „Theater“ und „Tagebuch“. Wie treffend ist diese Platzierung! Eine mikroskopische Genauigkeit, die Stille, die Klarheit, der Verzicht auf das Dramatische. Ich sehe Gemeinsamkeiten mit Rakusas Schreiben, allerdings unterscheidet sich Tschechow mindestens in einem Punkt von ihr. Bei ihr gibt es keine Wehmut. Schon wieder denke ich, dass manche deutschen Wörter unbedingt das Genus ändern müssen: Die Wehmut ist männlich, während der Mut feminin ist.

Es war auch Rakusa, die mich von einer Einsamkeit befreit hat, zumindest, was das rollende R betrifft. Weltweit gibt es Menschen mit rollendem „R“ im Mund. Ohne ihr Buch wäre ich nicht auf diese Erkenntnis gekommen und hätte mein R weiter als eine persönliche Macke wahrgenommen und mich heimlich deswegen geschämt. Ich lernte nämlich in Japan Russisch und behielt das rollende R weiter in Hamburg als eine Spur meines persönlichen Umwegs und verließ es selbst dann nicht, als einige Hamburgerinnen mir sagten: „Sie sprechen ganz gut Deutsch, außer, dass ihr R etwas bayerisch klingt.“ „Nein, nicht bayerisch, sondern slawisch!“, erwiderte ich – vergeblich, denn viele Westeuropäer sind schon überfordert, wenn sie von Rakusa erfahren, wie russisch die Stadt Paris ist. Dass auch Japan ein slawisches Gesicht hat, ist ihnen zu viel. Dabei ist Europa – wie Rakusa es immer wieder zeigt – kein Patchwork, sondern ein Ozean ohne Zentrum, ohne Randgebiet und ohne Besitzanspruch. Die Geburtsstadt von Kleist, Frankfurt an der Oder, liegt daher auch nicht am östlichen Ende Europas. Rakusa erzählte oft genug vom Leben der Menschen, die östlich von dieser Stadt lebten und leben. Der Fluss Entweder-Oder kann nicht die Grenze sein, wo die Literatur endet. Ihr Schreiben beginnt am Mittelmeer, fließt mühelos über die Nordsee in die Ostsee, nicht nur wird der Atlantik von beiden Seiten, sondern auch der Pazifik wird von den beiden Seiten betrachtet. Dieses Meer ist kein Territorium, sondern Sehnsucht. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle auch die Rolle der Schweiz erwähnen. Denn ausgerechnet in diesem Land, das keinen Zugang zu einem Ozean hat, sind die meisten Texte von ihr entstanden. Der wichtigste Hafen der Autorin ist doch der Schreibtisch, ihr Schiff ist die Sprache und dort beginnt das imaginäre Wasser, das allein die Literatur kennt.

Nach oben


Ilma Rakusa: Preisrede

Sehr geehrte Jury, sehr geehrter Herr Botschafter, lieber Günter Blamberger, liebe Yoko Tawada, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

es war der Sommer vor dem Abitur. Mit meinen Eltern verbrachte ich die Ferien in einem hochgelegenen Walliser Tal, in Arolla, und las wie besessen Kleists "Penthesilea". Zwischen duftenden Zirben, mit Blick auf verschneite Bergspitzen, gab ich mich den muskulösen, schneidenden Sätzen dieses abgründigen Trauerspiels hin, das ich aus eigenen Stücken als Abiturstoff in Deutsch ausgewählt hatte. Penthesilea, nicht das Käthchen von Heilbronn zog mich in Bann, die leidenschaftliche Amazone, die - einem tragischen Missverständnis zufolge - in Raserei ihren Geliebten Achill tötet, zerstückelt und verzehrt. Liebe - ein Unglück. Gefühl - schiere Unberechenbarkeit. ("Und jeder Busen ist, der fühlt, ein Rätsel.") Dazu die Bedingungslosigkeit einer bis zum Zerreissen gespannten Psyche, die zwischen Kampfesmut und gierender Zärtlichkeit einen Ausweg sucht - und erst im Freitod findet.

Doch nicht die Ungeheuerlichkeit des Geschehens faszinierte mich, sondern die Sprache, ihre Weissglut, ihr bitteres Pathos: 

"Lasst ihn den Fuss gestählt, es ist mir recht,
Auf diesen Nacken setzen. Wozu auch sollen
Zwei Wangen länger, blühn'd wie diese, sich
Vom Kot, aus dem sie stammen, unterscheiden?
Lasst ihn mit Pferden häuptlings heim mich schleifen,
Und diesen Leib hier, frischen Lebens voll,
Auf offnem Felde schmachvoll hingeworfen,
Den Hunden mag er ihn zur Morgenspeise,
Dem scheusslichen Geschlecht der Vögel bieten.
Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt."

So spricht Penthesilea im Neunten Auftritt mit grimmigem Stolz, nachdem sie - zweifelnd und weicher gestimmt - zu Prothoe geäussert hatte:

"Mir diesen Busen zu zerschmettern, Prothoe!
- Ist's nicht, als ob ich eine Leier zürnend
Zertreten wollte, weil sie still für sich,
Im Zug des Nachtwinds, meinen Namen flüstert?
Dem Bären kauert' ich zu Füssen mich,
Und streichelte das Panterthier, das mir
In solcher Regung nahte, wie ich ihm."

"Extreme Gefühlsschwankungen, krankhafte Empfindlichkeit", notierte ich damals über Penthesilea. Es sind dies auch Züge des Autors Kleist, der nicht weniger bedingungslos seinem Leben und dem seiner Geliebten Henriette ein Ende setzte.

Wenige Jahre später, noch während meines Slawistik-Studiums, stiess ich auf die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa (1892-1941), die mich in vielem an Kleist erinnerte: mit ihrem seelischen Zwiespalt; ihrem Absolutheitsanspruch in Sachen Liebe; ihrer "Masslosigkeit in einer Welt nach Mass", ihrer radikalen künstlerischen Kompromisslosigkeit; ihrer Vorliebe für tragische antike Heroinnen (so in ihren Versdramen "Ariadna" und "Phädra"); mit ihrer nicht nur expressiven, sondern exzessiven Interpunktion, die ihre Gedichte, Poeme und Prosatexte zu eigentlichen Partituren macht; mit dem ungestümen Rhythmus ihrer Sätze, ihrer Apodiktik und polemischen Angriffslust; mit ihrer Illusionslosigkeit, die sie im August 1941 - während der Kriegsevakuierung im tatarischen Jelabuga - den Selbstmord wählen liess. Das Leben wurde zu unerträglich, schnurrte auf einen Punkt zusammen: den Wunsch, nicht mehr zu sein. Oder wie es in ihrem Gedicht "Klage des Zorns und der Liebe" vom Mai 1939, kurz nach dem Einmarsch der Hitlertruppen in die Tschechoslowakei, hiess: "Auf diese Welt des Irrsinns / Gibt es nur eins: ich geh."

Zwetajewa hat mich - wie Kleist - in ihren Bann geschlagen und nie mehr losgelassen. In zahlreichen Übersetzungen habe ich ihre intensive Sprachwelt erforscht und nachzubilden versucht. Sie ist meine tägliche Gesprächspartnerin, obwohl wir uns kaum gleichen. Marinotschka, rufe ich ihr ins Jenseits zu, erklär mir bitte diese vertrackte Stelle. Die Antwort kommt nicht umgehend, aber irgendwann doch. Weil im Marina-Land alles mit allem zusammenhängt, auf eine hoch paradoxe, nie gänzlich ausdeutbare Weise. Kontra heisst das Losungswort: Gegen den Strom schwimmen; gegen jede Vereinnahmung, Partei, literarische Strömung, Kirche sein Aussenseitertum behaupten. "In dieser christlichsten aller Welten sind alle Dichter - Juden." Ein Satz, der Zwetajewas ruheloses Leben im revolutionären Russland, im Pariser Exil und danach, unter Stalin, prägte, ohne dass sie in Larmoyanz oder Hader verfiel. Ich stelle mir eine imaginäre Begegnung zwischen Kleist und Zwetajewa vor: provozierend beide, unnachgiebig im Gespräch, schnell und - hinter dem Rapier - sehr verwundbar. Sie hätten sich erkannt und - gemocht.

Ich stünde heute nicht vor Ihnen, wenn ich nicht in ständigem Dialog mit Autoren und deren Werken wäre. Viele leben nicht mehr, aber indem ich sie lese, werden sie gegenwärtig. Begonnen hat dieser Dialog mit Märchen, ungarischen zumal, deren Verfasser nicht immer überliefert sind. Gelernt habe ich daraus, dass oft die Letzten die Ersten werden, dass körperliche Kraft durch Schlauheit kompensiert werden kann, dass nach vielen Fährnissen die Gerechtigkeit siegt, und dass es - um die Welt zu erzählen - eine prägnante und musikalische Sprache braucht. Denn das Ohr pocht auf Rhythmen und Klänge, das Gedächtnis auf Wiederholungen. Grausamkeit, um die Märchen keinen Bogen machen, verlangt auf der sprachlichen Ebene nach Ordnung und Schönheit. Erst so entsteht eine Gegenwelt, auf die Verlass ist. Dass sie auch Trost spenden kann, gehört zu ihrem Zauber.

Märchen also, von den Gebrüdern Grimm und Hauff, aus Russland und dem Fernen Osten. Ich konnte mich an ihnen nicht sattlesen: an den Schicksalen ihrer Däumlinge, schlafenden Prinzessinnen und schlauen Schweinchen. Bis, Jahre später, Dostojewskij in mein Leben hereinbrach, heftig, mit "Schuld und Sühne". Wie es mir bei der Lektüre erging, habe ich in meinem Erinnerungsbuch "Mehr Meer" ausführlich geschildert: die Konfrontation mit einem Doppelmörder, der sein Verbrechen weder eingesteht noch bereut, bis ihn die sanfte Prostituierte Sonja zum Einlenken bewegt. Bergeversetzende Liebe, das gab es also. Und den Sieg der Demut über Grössenwahn. Ich war zehn, als ich mir diesen Weltklasse-Thriller zumutete. Im Lauf der Jahre las ich alles von Dostojewskij. Dreimal den "Idioten", der zu meinen absoluten Lieblingsbüchern gehört. Wegen Fürst Myschkin, dem Epileptiker, der in seiner zarten, zurückhaltenden Art alles um sich herum auf den Kopf stellt. Wegen der leidenschaftlich-exzentrischen Nastassja Filippowna, die vor den Augen ihres geldgierigen Freiers ganze Packen von Rubeln ins Kaminfeuer wirft. Wegen Rogoshin, der - mit Blick auf eine Kopie von Holbeins "Totem Christus" - die schöne Nastassja ins Jenseits befördert. Der Mensch: ein Raubtier oder ein Heiliger? Dostojewskijs fiebrige Prosa urteilt nicht, die polyphone Stimmenvielfalt erzeugt Streit und Kontroverse, auf Rechthaberei ist sie nicht aus. Sage mir einer, wer in den "Brüdern Karamasow" ideologisch den Sieg davonträgt: Iwan Karamasow, der Erzähler der ewig aktuellen "Legende vom Grossinquisitor" (der Mensch braucht nicht Freiheit, sondern Brot und Bevormundung) oder sein jüngster Bruder Aljoscha, der - gläubig und zukunftsgläubig - seine Hoffnung in die junge Generation setzt? Die Figuren agieren, reden, zeigen ihre Schwächen und Stärken. Ohne dass auktorial ein Urteil gefällt würde. Ganz anders als bei Tolstoj, dessen didaktisches Naturell mich stets irritierte. (Tolstoj-Verehrer wie Nabokov nehmen dagegen an Dostojewskijs hysterischer Figurenwelt Anstoss.)

Unendlich viel verdanke ich der Bekanntschaft mit dem Werk des serbisch-ungarisch-jüdischen Autors Danilo Kiš (1935-1989). Noch bevor ich seine Romane "Sanduhr" und "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" übersetzte, entdeckte ich "Garten, Asche", ein bildstarkes, poetisches Buch über eine Kindheit während des Kriegs, über die Deportation des Vaters nach Auschwitz, über Verlust und den Versuch, mit zaghaften  Versen dem Verhängnis etwas entgegenzusetzen. Schon mit diesem ersten Band seiner autobiographischen Trilogie, ironisch "Familienzirkus" genannt, hat sich Kiš in die Weltliteratur eingeschrieben. Und wie er in "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" den Opfern des Stalinismus ein Denkmal setzte, hat ihm keiner nachgemacht. "Eine Kunst, niederschmetternder als jede Statistik", schrieb Joseph Brodsky in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe. Einer, der es wissen musste.

Auch Brodsky, der mit 55 Jahren viel zu jung starb, gehört zu meinen Dialogpartnern. Wir kannten uns, ich hatte ihn in Leningrad in jenen berühmten "anderthalb Zimmern" besucht, indem ich durch einen Schrank schlüpfte. Später sind wir uns mehrfach in Zürich, Graz und Venedig begegnet. In Zürich schenkte ich ihm meine portable russische Schreibmaschine, in die er gleich ein Papier einspannte, um mir eines seiner Lieblingsgedichte von Puschkin aufzuschreiben. Brodskys Gedichte, elegisch und streng, anspielungsreich und unendlich kunstvoll gereimt, begleiten mich ständig. Darunter seine "Grosse Elegie an John Donne" (1963), die in einer seitenlangen, litaneienhaften Aufzählung vorführt, wie Gegenstände und Bäume, Engel und Gottvater, ja selbst die Sprache und das Unglück in Schlaf versinken. Die Suggestion der Reihung, des monotonen Singsangs, ist unwiderstehlich. Und plötzlich erscheint die Schöpfung als eine zeitlos-friedliche Nature-morte im Idealzustand stummer Egalität.

Ich setze meine Hommage an Dialogpartner - denn um eine solche handelt es sich -noch ein wenig fort, indem ich Inger Christensens Langgedicht "Alphabet" (1981) erwähne, eine einzigartige Schöpfungsgeschichte, aufgebaut nach dem Fibonacci-Prinzip, das zu einem raschen Anwachsen der Begriffe und Verszeilen führte. So hat Christensen ihren Entwurf beim Buchstaben N beendet, womit implizit angedeutet wird, dass Totalität nicht zu haben ist. Aber was da steht, ist erschütternd in seinem Nebeneinander. Und wieder ist es der Sound, der das Heterogene verbindet:

"1  die Aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es. //
2  die farne gibt es; und brombeeren, brombeeren
und brom gibt es; und den wasserstoff, den wasserstoff //
3  die zikaden gibt es; wegwarte, chrom
und zitronenbäume gibt es; die zikaden gibt es;
die zikaden, zeder, zypresse, cerebellum..."

Das Poem gibt eindrücklich zu bedenken, was wir an der Schöpfung haben und zu schützen haben, es nennt aber auch das, was diese Schöpfung zerstören kann. Ohne mahnend erhobenen Zeigefinger, ohne Pathos, vielmehr mit jener ruhigen Insistenz, die Respekt und Verantwortungsbewusstsein vereint. Christensens "Alphabet" ist kein lyrisches Nischenprodukt, es verhandelt die Welt, wie wir sie wahrnehmen sollten, damit sie uns erhalten bleibt.

Mein letzter Gruss gilt Friederike Mayröcker, die mit über neunzig Jahren in Wien täglich an der Ausweitung und Vertiefung ihres poetischen Universums arbeitet. Wenn die Formel "Leben gleich Schreiben" auf jemanden zutrifft, dann auf diese obsessive Dichterin, die noch den engsten Wirklichkeitsausschnitt in eine vielfarbig und vielstimmig vibrierende Welt der "correspondances" verwandelt, im Zeichen des Dialogs und grossherzigen Austauschs. Anrufung, Zitat: Mayröckers Werk ist voll davon, denn es wendet sich an Tote und Lebende, Freunde und Kollegen. Lese ich es, bin ich mitgemeint und Teil dieser einzigartigen Community.

Dialog also. Ich begreife mein eigenes Schreiben als Fortschreiben und ständige Zwiesprache. Einige Namen habe ich Ihnen verraten, doch sind es bei weitem nicht alle. Und die Zwiesprache betrifft selbstredend nicht nur den Schreibprozess. Ist ein Text entstanden, ist er auf Sie - die Leserinnen und Leser - angewiesen, um sich zu entfalten.

Freilich geht es mir nicht um die schiere Zahl meiner Leser, Zahlen sind abstrakt. Sondern um eine Berührung im Sinne von Martin Bubers "Ich und Du". Berühren und sich berühren lassen, hält uns lebendig, sprengt die Kapsel der Einsamkeit (mit der ich mich im übrigen ausgiebig beschäftigt habe). Ich frage mich, ob wir Berührung heutzutage ernst genug nehmen, in einer Zeit totaler Kommunikation, die sich aber mehr und mehr virtuell abspielt. Ob wir gewillt sind, dem andern wirklich zuzuhören, statt permanente Selbstdarstellung zu betreiben. Berührung kann weh tun, Zuhören kann anstrengend sein. Küsse sind nicht selten Bisse, wie es in Kleists "Penthesilea" heisst. Aber ohne Berührung drohen wir zu erstarren.

Meine Biographie hat es mit sich gebracht, dass ich schon als Kind mit vielen Menschen, Orten und Sprachen in Berührung kam. Das Neue und Fremde machte mir keine Angst, meine Eltern erzogen mich zur Offenheit. Ich will nicht leugnen, dass die Kofferkindheit mitunter mühselig war, doch schenkte sie mir vier Sprachen und eine Menge Erfahrung. Und hielt meine Neugier wach.

Im Moment erleben wir in Europa eine wachsende Berührungsangst gegenüber dem Andern und Fremden. Viele befürchten, der Kontinent werde von Migranten überrollt und sei dabei, seine sogenannte abendländisch-christliche Identität aufzugeben. Die Lage ist, zugegeben, alles andere als einfach. Doch Abwehr und Abschottung halte ich nicht nur für unmenschlich, sondern für gefährlich. Zumal die Argumente, mit denen sie begründet werden, aus der Instrumentenkiste des Nationalismus und Rassismus stammen. Wohin diese in den letzten hundert Jahren geführt haben, wissen wir zur Genüge. Und vergessen wir nicht, dass zwischen 1990 und 1995 auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien ein grausamer Krieg wütete, der fast 120'000 Opfer forderte, davon allein in Bosnien 97'000. Zu seinen Hauptverursachern gehörte ein entfesselter Nationalismus, der auf "ethnisch reine" Gebiete pochte. Die Folgen dieses Kriegs sind bei weitem nicht ausgestanden, Bosnien - durch den Dayton-Vertrag notdürftig befriedet - ist ein "failed state", dem - wer nur kann - den Rücken kehrt. An dieser Stelle muss ich auf Danilo Kiš zurückkommen, der schon in den frühen siebziger Jahren vor dem nationalistischen Wahnsinn gewarnt hatte, ohne dass man ihm Gehör schenkte. (Er starb kurz vor Ausbruch des Kriegs in Paris an Lungenkrebs.) Nationalismus, so Kiš, sei vor allem Paranoia, kollektive und individuelle Paranoia, ausserdem eine Ideologie der Banalität und des Kitsches. Seinem Wesen nach totalitär und demagogisch, reaktionär und regressiv, sei er die letzte Ideologie, "die sich an das Volk wendet". Eine durch und durch negative Erscheinung, denn Nationalismus "lebt in der Negation und von der Negation".

Mit dieser vernichtenden Kritik behielt Kiš nur allzu recht. Nehmen wir sie uns zu Herzen.

Noch ist es nicht zu spät, gefährliche Tendenzen auch in Deutschland, Frankreich oder Italien abzuwenden. Doch die Zeit tickt. Und wir müssen uns darauf besinnen, dass Europa nur bestehen kann, wenn es Einheit demonstriert statt Zwietracht, wenn es auf Dialog setzt statt auf Abschottung. Ich sage das als überzeugte Europäerin und als eine Wortarbeiterin, für die Poetik - um einmal mehr Danilo Kiš zu zitieren - Po-ethik meint.

Der Schluss aber gehört dem Dank. Ich danke allen, die mir mit diesem Preis ihr Vertrauen entgegenbringen und die meine Freude teilen: den Juroren und Jurorinnen, meiner Laudatorin Yoko Tawada und Günter Blamberger, dem Vorsitzenden der Kleist-Gesellschaft. Ich danke Bernd Isele vom Deutschen Theater, den Schauspielern Maren Eggert und Alexander Khuon und den Musikern Philipp Beckert und Erez Ofer, die mir meinen Musikwunsch so hingebungsvoll erfüllt haben. Ich danke dem Schweizerischen Botschafter in Berlin Paul Seger, meiner Verlegerin Annette Knoch und meinen hier so zahlreich versammelten Freunden und Freundinnen, Lesern und Leserinnen, die teilweise von weit angereist sind.

Danke, merci, thank you, grazie, spasibo, köszönöm, hvala, arigato!

                                                                     Ilma Rakusa

 

Nach oben


László Földényi verlieh den Kleist-Preis 2018 an Christoph Ransmayr

Der Kleist-Preis 2018 wurde Christoph Ransmayr am 18. November 2018 in Berlin von dem ungarischen Kunsttheoretiker, Essayist, Literaturkritiker und Übersetzer László Földényi  während einer denkwürdigen Matinée im Deutschen Theater übergeben. Arrangiert wurde die Preis-Verleihung von Ulrich Khuon und Ulrich Beck. Die bewegende Rede von Christoph Ransmayr, oder besser die autobiographische Erzählung zum Thema Kohlhaas-mein-Vater, wird im Dezember in der FAZ veröffentlicht werden, später dann im Kleist-Jahrbuch 2019 vollständig erscheinen, die Laudatio von László Földényi ist hier nachzulesen.

Das Grußwort sprach der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (hier nachzulesen). Maren Eggert las aus dem Werk Ransmayrs und Heinrich von Kleists.
Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von dem Posaunisten Christian Muthspiel.

Die Jury des Kleist-Preises, die László Földényi zur Vertrauensperson gewählt hatte und die gemäß der Tradition des Kleist-Preises den Preisträger in alleiniger Verantwortung bestimmt, bestand diesmal aus Andrea Bartl (Universität Bamberg), Günter Blamberger (Universität zu Köln), Florian Borchmeyer (Dramaturg Schaubühne Berlin), Gabriele Brandstetter (Freie Universität Berlin), Florian Hoellerer (Literarisches Colloquium Berlin), Michael Maar (freier Autor Berlin) und Sigrid Weigel (Zentrum für Literaturforschung Berlin). 

Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Das Preisgeld geben die Holtzbrinck Publishing Group, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Ministerien für Wissenschaft, Forschung und Kultur der Länder Berlin und Brandenburg. Der Kleist-Preis hat eine lange Tradition. In den 10er und 20er des letzten Jahrhunderts wurden u.a. Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Robert Musil oder Anna Seghers ausgezeichnet. Nach der Wiederbegründung des Preises 1985 hießen die Preisträger u.a. Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Ernst Jandl, Monika Maron, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Martin Mosebach, Gert Jonke, Daniel Kehlmann, Wilhelm Genazino, Arnold Stadler, Sibylle Lewitscharoff, Navid Kermani, Marcel Beyer, Monika Rinck, Yoko Tawada oder Ralf Rothmann.

Christoph Ransmayr gewann mit den drei großen Romanen Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Die letzte Welt (1988) und Morbus Kitahara (1995) umgehend internationale Anerkennung. Sie entwerfen eine hintergründige Topographie, in der sich historische Orte mit mythischen Landschaften überlagern. Eine Expedition zum Nordpol, die Verbannung Ovids nach Tomi ans Schwarze Meer,  ein Kurort am Traunsee unter Besatzung nach 1945 werden zu Schauplätzen der Rückverwandlung von Kultur in Natur und des Rückfalls des Menschen in die Kreatur. Das Versepos Der fliegende Berg (2006) erzählt virtuos von zwei Brüdern, die den sagenumwobenen fliegenden Berg in Tibet besteigen. In Atlas eines ängstlichen Mannes (2012) zieht Ransmayr die Summe jahrzehntelangen Reisens in die entlegensten Gegenden dieser Erde. Jenseits jeglichen Exotismus reihen sich sprachlich kunstvoll präsentierte Detailbeobachtungen und alltägliche Begebenheiten aneinander und ergeben als Ganzes ein Bild der heutigen Welt, der globalisierten und zugleich enorm zerstreuten Kulturen. Der Roman Cox (2016) handelt von einem britischen Uhrmacher in China und ist erzählte Zeitphilosophie, entführt in ferne Zeiten und deren Muße und in die heutige Zeit. Er ist ein meisterhafter Versuch, zwischen Orient und Okzident zu vermitteln, und sei es auch nur, indem der Autor Grausamkeit und Autokratie hüben wie drüben vergleicht.  Christoph Ransmayrs riskante und stets wechselhafte Versuchsanordnungen des Schreibens, die seit Jahren vom S. Fischer-Verlag publiziert werden, wurden mit großem Recht bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Kafka-Preis (1995), dem Prix Aristeion (1996), dem Friedrich-Hölderlin-Preis (1998), dem Nestroy-Theaterpreis (2001), dem Böll-Preis (2007), dem Fontane-Preis (2014), dem Marieluise-Fleißer-Preis (2017) sowie dem Würth-Preis für Europäische Literatur (2018).

 

Hier können Sie die Laudatio nachhören

László Földényi: Im Banne des weißen Fleckes

Laudatio anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises an Christoph Ransmayr

Ob Heinrich von Kleist zu Lebzeiten je den Kleist-Preis erhalten hätte? Vermutlich nicht. Nein, gewiss nicht. „Was ... den Styl betrifft, so ist dieser zu undeutsch, steif, verschroben, und … gemein”, schrieb etwa Karl August Böttiger, einer der maßgeblichen Kritiker der Zeit, über die Marquise von O..... Die Ansicht, dass Kleist des Deutschen nicht wirklich mächtig und seine Sprache unmöglich sei, war allgemein verbreitet. Der Kleist-Preis für einen Autor, der im Schatten Goethes derart umständlich beschreibt, wie Lisbeth der Atem stockt, als sie erfährt, dass Kohlhaas seine Besitzungen verkaufen will – einer meiner Lieblingssätze aus Kohlhaas: „Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte, Blicke, in welchen sich der Tod malte, bei den roten Wangen des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbändern spielte, auf den Roßkamm, und ein Papier werfend, das er in der Hand hielt.“

Ein verschrobener Satz, ohne Zweifel. Müsste ich nach zeitgenössischen Parallelen suchen, fielen mir als erstes nicht Schriftsteller, sondern ein Gemälde ein: Caspar David Friedrichs Das Eismeer. Dort sind es die Eisschollen, die sich genauso brüchig übereinander schieben wie hier die Hypotaxen und Parataxen, sie bringen den feststeckenden Schiffsrumpf zum Bersten, zersprengen alles. Selbst die Leinwand vermag sie kaum zusammenzuhalten. Und doch ist das Ganze genau konstruiert, der Entwurf makellos. Und doch ist das Ganze genau konstruiert, der Entwurf makellos. Wie auch Kleists Satz, der einerseits labyrinthisch strukturiert ist, andererseits aber auch zielgerichtet; am Ende kommt die Grammatik doch zu ihrem Recht. Das Gemälde würde ich persönlich Eisfalle nennen. Das Schiff steckt in der Falle, die Bildkonstruktion steckt in der Falle. Bei Kleist wiederum steckt die Sprache in der Falle. Und dennoch hat das Ganze etwas Erhabenes, Betörendes.

Eisfalle. Der Ausdruck stammt natürlich nicht von mir, ich habe ihn Christoph Ransmayr entlehnt, seinem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, der Szene, in der die verunglückten Nordpolreisenden zur Einsicht gelangen, dass sich „die Eisfalle ... nicht mehr öffnen” wird. Hier habe ich aber nicht das Eis und den Schnee und auch nicht die Geschichte der Nordpol-Expedition im Blick, sondern die eigentümliche Satzstruktur, die sich so schwer tat, in der deutschsprachigen Literatur akzeptiert zu werden. Zwei Jahrhunderte später sehe ich sie in den Büchern Christoph Ransmayrs wieder zum Leben erwachen. Wenn ich ihn lese, habe ich oft das Gefühl, auch Kleists Stimme zu hören. Wie Kleist schickt auch er seine Sätze behutsam auf den Weg, mit „langsamem, schweifendem Blick”, wie Cyparis, der Liliputaner, seine Kamera in Die letzte Welt, bevor er das Dickicht der Hypotaxen und Parataxen betritt, die den Leser zwingen, ihm immer konzentrierter zu folgen, um sich nicht zu verirren, bis er schließlich unvermittelt doch noch ins Ziel gelangt. Und überrascht feststellt, dass die Sätze in eine neue, bis dahin nie wahrgenommene Welt Einblick gewähren. Ja, eine neue Welt erschaffen. Hier ein beliebig ausgewählter Satz aus seinem Buch Atlas eines ängstlichen Mannes, in dem der Autor eine Gruppe Betender vor den Gittertoren der Anstaltskirche des Psychiatrischen Krankenhauses Am Steinhof in Wien beschreibt:

„Den Blick in das von zwei Ampeln nur schwach erhellte, golden schimmernde Kirchenschiff gerichtet, knieten oder standen die Betenden vor den versperrten Toren und umklammerten die Gitterstäbe, als ob die abendliche Weite in ihrem Rücken, die träge ziehenden Wolken, ja die ganze Stadt, die, aus der Höhe des Kirchenportals betrachtet, in einer blaugrauen Tiefe lag – Regionen einer vergitterten Welt wären und das verschlossene Halbdunkel, in das sie ihre Gebete, Lieder und Litaneien murmelten und sangen, die Freiheit, ein kostbar funkelnder, unendlicher Raum.”

Wie in dem eingangs zitierten Satz aus Kohlhaas geht es auch hier um einen Blick. Dort richtet sich der Blick aus dem Leben auf den Tod, hier aus dem Eingesperrtsein auf die Freiheit. Und wie bei Kleist ist der Satz auch bei Ransmayr an sich schon so wie das, wovon er handelt: ein verschlungenes Labyrinth, das den Leser immer mehr gefangen nimmt, um ihn am Ende unvermittelt doch noch zu beschenken – mit der Freiheit, die man beim Anblick des unendlichen Raumes empfindet. Ein komplexer Satz, keine Frage – ein Deutschlehrer mit Rotstift in der Hand könnte ihn in mindestens zehn eigenständige Sätze zerlegen. Oder wenn nicht, so würde er zumindest die Hypotaxen eliminieren und das Ganze dadurch flüssiger machen. So verfuhren jedenfalls die nachfolgenden Generationen mit Kleists Sprache, wenn sie seine Werke herausgaben und dabei unzählige „Korrekturen“ durchführten. Mal änderten sie die Anzahl der Absätze, mal verwandelten sie die indirekte Rede in Dialoge, modifizierten willkürlich die Interpunktion, splitterten einzelne Sätze in mehrere neue auf. Diese Gefahr droht auch Ransmayr. In seinem Buch Geständnisse eines Touristenzitiert er selbst einen Kritiker, nach dessen Ansicht „mein leider sehr übel geschriebener Roman Morbus Kitahara erst noch ’ins Deutsche zu übersetzen’ wäre.”

Was bedeutete eine solche Übersetzung? Indem man Kleists Sprache geglättet hatte, hatte man versucht, ihn der Sprache des Realismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts anzugleichen. Damit er wie Fontane oder der junge Thomas Mann klang. Und welchem Zweck diente eine „Übersetzung“ Ransmayrs? Dass er leicht verständlich, seine Sätze schnell erfassbar, seine Ausdrucksweise schmiegsam werde. Mit anderen Worten, dass er der Entwicklung angepasst werde, die Felix Philipp Ingold als die „McDonaldisierung der Literatur” bezeichnet hat. Damit der zügigen Informationsvermittlung nichts im Wege steht. Im Gegensatz zum gängigen Syntax, den das breite Lesepublikum heutzutage von der Literatur erwartet, vermitteln Ransmayrs Sätze nicht nur Information, sein eigentümlicher Satzbau und Sprachgebrauch haben vielmehr an sich schon Informationscharakter. Deshalb ist jedes seiner Worte von existenzieller Bedeutung. Ich lese seine Prosa auch deshalb so gern, weil sie sehr schnell in eine Region führt, die ich am ehesten mit der Dichtung assoziiere. Er legt nämlich den gleichen Wert auf die innere Struktur der Sätze wie auf das, wovon sie handeln. In der Dichtung ist das eine Selbstverständlichkeit. In der Prosa weniger: Da scheint das Was? in der Regel wichtiger zu sein als das Wie? Wie sagte doch in den 1920er Jahren Friedrich Gundolf – als kundiger Leser – über Kleists Prosa? „Er zuerst legt unter den deutschen Dichtern das Gewicht mit Erfolg mehr auf die Sagung als aufs Gesagte.” Genauso eigenartig und wunderlich wie das Wort Sagung ist auch Ransmayrs Sprache. Das Wie? lässt sich in seiner Prosa nie von dem Was? trennen. Seine Sätze wirken wie Lebewesen. Die Sprache selbst entfaltet und erschafft das, wovon sie dann sprechen wird. Er überträgt nicht einen Gedanken in Worte, die sich dann wiederum zu Sätzen zusammensetzen, sondern erst bei der Niederschrift der Worte entsteht der Gedanke und wächst sich zu einem Satz aus. So erkläre ich mir, dass ich, wenn ich ihn lese, oft sogar zu spüren glaube, wie er beim Schreiben Luft geholt hat. Seine Sätze haben sprichwörtlich einen Körper.

Wie sind Ransmayrs Sätze? Mit Thomas Bernhard gesprochen: „einfach kompliziert“. Grammatikalisch, syntaktisch sind sie fehlerfrei, doch hinter ihrer rationalen Struktur verbirgt sich etwas, was rational nicht zu fassen ist. Dabei geht es aber nicht um etwas Irrationales, sondern um etwas, was ich als unkartographierbar bezeichnen würde. Ich verwende dieses Wort bewusst, handelt es sich bei ihm doch um jemanden, der vermutlich alle belebten und unbelebten Regionen auf der Weltkarte bereits bereist hat. Die Last seines eigenen Lebens wird man ihm aber wohl nirgendwo abgenommen haben. Um ihn selbst zu zitieren: „Vermessen und kartographiert ist so gut wie alles, aber weitgehend unbekannt ist immer noch, was sich in einem selber auftut, wenn man durch eine ungeheure, übermächtige Landschaft geht.” Davon handelt für mich Atlas eines ängstlichen Mannes, den ich für das bedeutendste deutschsprachige Buch der letzten Jahre halte. Die Verlockung dieses „noch nie Gesehenen“ ist es, was Ransmayrs Helden umtreibt; sie sind ständig auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht gar nicht finden zu können glauben, von dessen Vorhandensein sie aber felsenfest überzeugt sind. Was es ist, wissen sie selbst nicht. Schließlich suchten die Polarreisenden nicht den Nordpol, sondern das Paradies und fanden es auch, obwohl sie auf halbem Wege umkehren mussten. Die Protagonisten von Morbus Kitahara sind auf der Suche nach Versöhnung. Der Erzähler von Atlas ist ständig unterwegs, doch führt sein Weg wie der Heinrich von Ofterdingens „immer nach Hause”. Die Helden von Der fliegende Berg wiederum sind hinter dem weißen Fleck her, „jenem makellos weißen Fleck / in den wir dann ein Bild unserer Tagträume / einschreiben können.”

Ja, der „weiße Fleck“. Davon wollte ich eigentlich von Anfang an sprechen. Was ist der weiße Fleck? Ein unstillbares, inneres Verlangen, das den Reisenden allen Widerständen zum Trotz immer wieder aufbrechen lässt, auf der Jagd nach etwas, von dem er nicht einmal wirklich Rechenschaft geben könnte. Wenn ich an den Titel von Ransmayrs erstem Buch denke (Die Entdeckung des Wesentlichen), würde ich sagen: der weiße Fleck ist das, was traditionell als Wesen bezeichnet wird. Ransmayr hütet sich natürlich, das Wort „Wesen“ zu verwenden, wie auch die Worte „Metaphysik“ oder „Transzendenz“. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er sie gar nicht im Sinn hat, sich mit ihnen gar nicht beschäftigt. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass er nicht übersie, sondern ausihnen heraus schreibt, gleichsam aus ihnen herausblickt.

„Wesen“ – nur vorsichtig, gleichsam in Anführungszeichen spreche ich diese Worte aus, ebenso wie „Metaphysik“. Warum? Weil sie in der heutigen Zivilisation, die entschlossen allem den Krieg erklärt hat, worin sie das wittert, was man traditionell Wesen zu nennen pflegte, anachronistisch klingen. Obwohl es sich dabei um etwas sehr Einfaches handelt; mit Imre Kertész gesprochen, der es meines Erachtens auf den bisher knappsten Nenner gebracht hat: „Das Gebot lautet: du darfst dich mit allen Problemen des Lebens befassen, nur mit dem Leben als Problem an sich darfst du dich nicht befassen.“

Noch nie in der Geschichte der europäischen Kultur hat man so beharrlich versucht, die Metaphysik zu eliminieren. Sie zu eliminieren ist aber nicht möglich – aus dem einfachen Grund, dass der Mensch ohne Metaphysik nicht existieren kann. Sein Leben verdankt er einem Bruch, einem Riss – dem Sturz aus dem Nichtsein ins Sein –, und ein ähnlicher Bruch, ein ähnlicher Riss setzt ihm wieder ein Ende. In diesem Unbekannten, das dem Leben vorausgeht und folgt, liegen die Wurzeln der Empfänglichkeit für die Metaphysik. Schon infolge seines Wissens um die Vergänglichkeit ist der Mensch von Geburt an zum Heimweh nach dem Wesen und der Metaphysik verdammt.

Dieses Heimweh ist es, das mich bei der Lektüre von Ransmayrs Büchern sofort ergriffen hat. Es wirft den Schatten der Melancholie an alle seine Werke. Ja, der Melancholie, die uns mahnt, dass wir, und mögen wir alles noch so lückenlos absichern und die Welt noch so heimelig einrichten, eine Heimat nur inmitten der Heimatlosigkeit finden können. Dass sich hinter dem Optimismus, und mag er auch zur verbindlichen Weltreligion geworden sein, viele Fragen auftürmen, die ebenso beunruhigend sind wie die Welt, in die Ransmayr seine Leser einführt. Die Zeit, die Vergänglichkeit, die skandalöse Kürze des menschlichen Lebens und die genauso skandalös kurze Anwesenheit des Menschen im Universum – das alles hallt in seinen Werken als „weißer Fleck“ wider, das schafft den eigentümlichen Rhythmus seiner Sprache, macht seine Sätze so zerbrechlich und doch so fest. Dieser unkartographierbare weiße Fleck, dieses Objekt des Heimwehs durchdringt mich bei seiner Lektüre bis in die Poren hinein. Es ist gleichsam als Hintergrundstrahlung in seinen Schriften präsent. Oder als Generalbass. Und wenn schon Generalbass, dann eignet sich wiederum Kleist als Referenz, für den „im Generalbaß die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten” sind. Die Sprache öffnen, damit wir für kurze Momente Einblick in jene Dimensionen gewinnen, die jenseits der Sprache sind und sich dennoch ausschließlich mittels der Sprache vergegenwärtigen lassen: das verdanke ich Ransmayr als sein Leser.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma


Hier können Sie die Preisrede nachhören und nachlesen

Christoph Ransmayr: Kohlhaas (Kopie 1)

Rede zur Verleihung des Heinrich von Kleist Preises 

Berlin, am 18. November 2018

 

Michael Kohlhaas, ein an seinem unerbittlichen Glauben an irdische Gerechtigkeit zugrundegegangener Mann, den Heinrich von Kleist hoch über seine Zeit hinausgehoben und unvergeßlich gemacht hat, war mein Vater. 

Gewiß, in den Urkunden meines Vaters, die ihn als unehelichen Sohn einer Schleusenwärterstochter auswiesen, stand ebenso wie in seinem von russischen Stempeln übersäten Reisepaß und stand auch in jenen Anklageschriften, in denen er der Veruntreuung und der Verleumdung beschuldigt wurde - und stand schließlich auf einem Haftbefehl, der ihn in das Gefängnis meiner Geburtsstadt einwies, noch ein anderer Name: Karl Richard Ransmayr. Aber nachdem ich als Schüler des Klostergymnasiums der Benediktiner im oberösterreichischen Lambach, kaum fünfzehn Kilometer von diesem Gefängnis entfernt,  unter der Aufsicht und Anleitung eines melancholischen Deutschlehrers Heinrich von Kleists Novellen gelesen hatte, fand ich für meinen Vater, einen nach Kleists Worten "außerordentlichen Mann, der … für das Muster eines guten Staatsbürgers hätte gelten können“, einen wahren und wie mir schien treffenderen Namen: Kohlhaas. Denn Kleist, war ich überzeugt, hatte nicht nur von einem im Kampf um sein Recht verzweifelnden Roßhändler erzählt, sondern gleichzeitig auch vom Leben meines Vaters und, ja, wie kaum ein anderer Dichter auch von meinem eigenen Leben. So wie die Liebenden aller Zeiten und Epochen im Grund ihrer Herzen miteinander verwandt und vertraut erscheinen, sind wohl auch die Dinge, die sie tun und sagen, einander ähnlich - und ebenso erschienen mir damals auch die Verzweifelten, die Elenden und Enttäuschten quer durch alle Zeiten miteinander verbunden.

Kohlhaas, mein Vater, wurde in einem strohgedeckten, von Wasserstaubwolken umrauchten Haus an einem auf regionalen Karten als Traunfall verzeichneten Katarakt geboren, über den jahrhundertelang mit Steinsalz beladenen Zillen aus den Bergwerken der Kalkalpen über ein labyrinthisches Kanalsystem in den Unterlauf des Flusses abgesenkt und an die Donau weitergeleitet wurden.  Die Schleusenwärter, die Zufluß und Abfluß in diesem System über eine Reihe von Wassertoren zu regeln hatten, führten den Namen eines Fallmeisters und waren Herren über Leben und Tod. Denn wenn es nicht gelang, eine der tonnenschweren Salzzillen über die entlang von moosbewachsenen Felswänden geführte Kanaltreppe sanft in den Unterlauf des Flusses zu lenken,  drohte den Bootsleuten Kenterung und Tod. Das Weißwasser unterhalb des großen Falls schien selbst bei sommerlich tiefen Wasserstandsmarken zu kochen. Der Salztransport auf dem Fluß war allerdings längst eingestellt und der letzte Fallmeister seit Jahren in einem von Rheuma und Gicht zerquälten Ruhestand, als seine einzige Tochter zu seiner Schande zwei uneheliche, von zwei verschiedenen, niemals preisgegebenen Vätern, vermutlich Arbeitern in einer nahen Papierfabrik, stammende Kinder zur Welt brachte. Das ältere der beiden war Kohlhaas, mein  Vater.

Unehelicher Sohn einer als Küchengehilfin in einem Lungensanatorium, später in einem Hotel namens Schiff am Ufer des Traunsees arbeitenden Fallmeisterstochter zu sein war ein nicht zu tilgender Makel. Tag für Tag, im Winter oft durch knietiefen Schnee, stieg mein Vater aus der Klamm, in der das Fallmeisterhaus im Tosen des Wassers hockte, einem Streifen Himmel über ihm entgegen und dann durch den Auwald zu jenem kilometerweit entfernten Dorf, in dem ich viele Jahre später meine eigene Kindheit verbringen sollte. Auch wenn es in diesem wie in allen Dörfern des Alpenvorlandes (und noch in meinen eigenen Schuljahren) ein böses Zeichen war, nur den Namen einer Mutter zu tragen, konnte mein Vater dieses Schandmal zwar nicht tilgen, aber, zumindest manchmal, vergessen machen. Er war ein begabtes Kind. Gefördert vom Dorfpfarrer, später von nationalsozialistischen Parteigängern im Gemeinderat, die ihn an ein Gymnasium am Traunsee empfahlen, lernte er luftige Aquarelle zu malen, Noten zu lesen, lernte Englisch, Latein, Griechisch und durch einen von Gogol, Turgenjew und Dostojewskij begeisterten Literaturlehrer in einem Freifach auch Russisch. Mit zunehmendem Wissen wuchs aber auch der Druck, nach vielen Seiten hin dankbar zu sein. Einem, dem trotz seiner beschämenden Herkunft so viel Gutes erwiesen worden war, mußten Hilfsbereitschaft, Demut, Gehorsam und Dankbarkeit zur obersten Pflicht werden. Kohlhaas ministrierte in Frühmessen, zu denen er sich um fünf Uhr morgens aufmachen mußte, weil der Weg lang war, entmistete Schaf- und Kuhställe, sammelte Roßkastanien für die Wildfütterung, schleppte Holz und Steine.

Aber als ihm die Ehre zuteil werden sollte, in eine Eliteschule der Nationalsozialisten aufgenommen zu werden, lehnte er so höflich es ihm möglich war ab. Und als er nach der mit Auszeichnung bestandenen Reifeprüfung aus seiner Ausbildung zum Lehrer ab- und zur Deutschen Wehrmacht einberufen wurde und dort eine Offizierslaufbahn einschlagen sollte, lehnte er wiederum ab. Auf meine Fragen nach seiner Vergangenheit und danach, wie ein von so viel Gutwilligkeit geförderter ehemaliger Armenschüler auf die glänzendsten Möglichkeiten seiner Zeit verzichten konnte, antwortete er: Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden. 

Nein, mein Vater war kein Mann todesmutigen Widerstandes. Aber daß er unter diesen Leuten nichts werden wollte, machte ihn zu einem der gerechtesten Menschen meines Lebens. Er wurde - nein, sagte er, nicht zur Strafe, warum, das könne doch niemand mehr sagen - auf ein Minenräumboot der Deutschen Kriegsmarine ins Schwarze Meer befohlen, wurde gefangengenommen, in ein Lager nahe dem zerstörten Sewastopol auf der Halbinsel Krym verbracht und mußte dort allen Neuankömmlingen aus deutschen Kriegsgefangenenzügen die Rede eines Lagerkommandanten aus Murmansk wieder und wieder übersetzen: Keiner von euch Hunden, schrie der Kommandant, keiner von euch Hunden wird seine Kinder, seine Frau, seine Heimat wiedersehen, bis nicht jeder Stein Sewastopols wieder an seinem alten Platz ruht und jedes erloschene Licht in den Fenstern der Stadt wieder leuchtet. Ihr Mörder, schrie der Kommandant, ihr Mörder erleidet hier nicht die Rache, die ihr verdient, sondern Gerechtigkeit.

Er habe den Kommandanten verstanden, sagte Kohlhaas. Sewastopol, das blühende Sewastopol, war im Kanonenfeuer deutscher Schlachtschiffe untergegangen. Zweimal, erinnerte sich mein Vater, wurde er von kriegsgefangenen Kameraden nach seiner Übersetzung solcher Begrüßungsreden verprügelt, einmal so schwer, daß er neun Tage in der Krankenbaracke des Lagers verbrachte und Blut erbrach. Wegen seiner Brauchbarkeit als Übersetzer kam er erst als Spätheimkehrer aus dem Krieg zurück. 

Nachdem er seine pädagogische Ausbildung wieder aufgenommen hatte, Dorfschullehrer geworden war und meine Mutter geheiratet hatte, eine weichherzige Säuglingsschwester, die lange und am Ende vergeblich auf die Rückkehr eines im Krieg verschollenen Bräutigams gewartet hatte, reiste er, wann immer seine Ersparnisse es erlaubten, auf die Halbinsel Krym und nach Sewastopol und fand dort wohl auch eine Geliebte, die ihm zu Weihnachten großformatige, farbenprächtige Bildbände russischer Marinemaler schickte. Meine Mutter litt unter diesen Büchern, litt unter diesen Reisen, aber sie liebte diesen Mann. Denn welchen Sehnsüchten er auch immer folgte - er blieb nach allen Seiten dankbar und versuchte dabei auch seine Frau und seine Familie zu ehren, so gut er konnte, schrieb selbst aus seinen Sewastopoler Ferien dicke Packen, mit Zeichnungen verzierte Liebesbriefe an sein Marthele, meine Mutter, zog im Winter seine vier Kinder auf Schlitten durch den Schnee, half ihnen beim Bau von Festungen aus Flußkieseln, Lehm und Moos oder schwamm mit ihnen durch die weißen Wirbel unterhalb des großen Wasserfalls. Ich durfte mich dann an seinen Schultern festhalten und er wurde, nach seinen Worten, zum Walfisch, der mich auf seinem Rücken über alle Wirbel und Flußtiefen dahintrug.

Im Dorf war er geachtet. Er wurde Oberlehrer, sang Baßsolos in verschiedenen Chören und Balladen an Bunte Abenden, die er gestaltete, und übernahm schließlich, nachdem das Gehalt eines Lehrers für die große Familie nicht mehr reichte, eine im örtlichen Kaiser-Franz-Joseph-Jubliäums-Lehrerheim untergebrachte, eher einer  Kleinwohnung als einer Bank gleichende Zweigstelle der Raiffeisenkasse, deren Wappenspruch  einmal Einer für alle, alle für einen gewesen war. "Nicht einer", schrieb Heinrich von Kleist über meinen Vater.. "nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte…"

Ich erinnere mich an Abende und an die Stunden zwischen Sonntagsgottesdienst und Mittagessen, in denen Bittsteller an unserem Küchentisch saßen, etwa der verzweifelte Fleischhauer, der um die Existenz seines Ladens kämpfte, denen mein Vater gegen Handschlag Banknoten auf den Tisch zählte, Kredite, für die es, wie sich zeigen sollte, weder Bürgschaften noch Sicherheiten gab. Der Fleischhauer, ein Mann, bei dessen Anblick mich ein angstvolles Herzklopfen befiel, wenn er mir  in seiner blutigen Schürze auf der Dorfstraße entgegenkam, war der erste Erwachsene, den ich an unserem Küchentisch weinen sah. Aber mein Vater verteilte nicht nur Geld, ohne Aufsichtsräte zu befragen, sondern verfaßte als stilkundiger Lehrer auch für Bauern, Handwerker, Gastwirte, Faßbinder und Schichtarbeiter Eingaben an die Baubehörde, Gesuche an die Gewerkschaft, an Kirchenbeitragsstellen, an das Bezirksgericht. Seine Nützlichkeit wurde schließlich so überzeugend, daß ihn die Ortsbauernschaft drängte, doch als Kandidat der Christlich Konservativen für den Gemeinderat zu kandidieren. 

Gegen die leidenschaftlichen Bitten und Beschwörungen meiner Mutter blieb mein Vater dankbar wie je, dankbar für die Achtung, die man ihm entgegenbrachte, für den Respekt, das Vertrauen, die Zuneigung, darunter gewiß immer wieder auch die Zuneigung von Hausfrauen, denen er leidenschaftliche Briefe schrieb und sich in den Flußauen an geheimen Nachmittagen mit ihnen traf. Er ging aus den Wahlen als stellvertretender Bürgermeister hervor. Und dieser Triumph war wohl eine der Bedingungen seines Unglücks. Denn der regierende, nun von einem Emporkömmling zur Rechenschaft gezogene Bürgermeister, Geistesverwandter einer von SS-Offizieren gegründeten politischen Bewegung, die im Österreich der Gegenwart, aber das nur nebenbei, als Freiheitliche Partei die Regierungsbank, das Innenministerium, Außenministerium, Verteidigungsministerium, Verkehrsministerium etc. besetzt hält und einem mythischen Kleinen Mann Gerechtigkeit widerfahren zu lassen verspricht.., wußte mit Konkurrenz nichts anzufangen. Die üblichen, politische Parteien seit je mehr als jedes Programm beschäftigenden Kämpfe begannen und wurden mit den üblichen, der politischen Arbeit stets nachgeordneten Mitteln geführt - üble Nachrede, Beschimpfungen, Verleumdungen. Auf diesem Schlachtfeld mußte der regierende Bürgermeister nicht lange nach der Achillesferse des Emporkömmlings suchen. War es denn nicht allgemein bekannt, daß mein Vater Kredite am Küchentisch vergab? Daß im Dorf so gut wie alle Geschäfte per Handschlag gemacht wurden, sollte schließlich nur dort geduldet werden, wo keiner der Geschäftspartner irgendwo irgendwem im Weg stand. 

Einer Anzeige des Bürgermeisters folgte jener Morgen, an dem zwei Polizeiautos mit blinkendem Blaulicht im Hof vor der Schule hielten und mein Vater von fünf Gendarmen wegen des Verdachts der Untreue verhaftet und ins Gefängnis verbracht wurde. Die  Lokal- und Regionalzeitungen widmeten dieser Ungeheuerlichkeit mehrere Titelseiten in Folge. An einem der wöchentlichen Besuchstage, an denen Gefangene und Besucher einander unter uniformierter Aufsicht an von feuchten Händen und Tränen gefleckten Tischen gegenübersaßen, sah ich zum ersten Mal, wie meine Eltern sich innig küßten. Erst später, viel später erfuhr ich, daß die beiden dabei Kassiber austauschten, von denen ich zwei nach dem Tod meiner Mutter im Nachlaß finden sollte. Es waren Liebesbriefe, die keinerlei Anweisungen für das praktische Leben oder verbotene Absprachen enthielten.

Mein Vater verlor seine Stelle als Oberlehrer, verlor alle seine Funktionen in den Vereinen des Ortes und natürlich auch seinen Rang als stellvertretender Bürgermeister. Der einer langen Untersuchungshaft folgende Prozeß ergab zwar, daß der Schuldige bloß seine Befugnisse durch die Umgehung des - ohnedies uninteressierten, aus Landwirten und Handwerkern bestehenden Aufsichtsrates - überschritten hatte, ergab auch, daß alles verliehene Geld mit entsprechendem Gewinn für die Bank zurückbezahlt worden war und mein Vater sich dabei weder persönlich bereichert noch andere Vorteile bezogen hatte, aber nach dem Gesetz war der Tatbestand  der Untreue erfüllt. Die Freiheitsstrafe war entsprechend mild und entsprach - möglicherweise als Vorbeugung gegen Entschädigungszahlungen - der Dauer der Untersuchungshaft. 

Aber Kohlhaas, mein Vater, wollte zum ersten Mal in seinem Leben keine Nachsicht, auch keine Milde, sondern Gerechtigkeit. "Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen", schrieb Heinrich von Kleist über meinen Vater, "wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Dem Rechtsgefühl…" 

Mein Vater weigerte sich, das Urteil anzunehmen. Hatte er sich denn nicht stets für seine Mitbürger eingesetzt, ohne dafür auch nur die geringste Gegenleistung zu fordern? Hatte er sich als Lehrer denn nicht an seinen freien Nachmittagen und auch in langwierigen Fällen ohne Entgelt um die Nachilfe von Kindern angenommen, die auf den Höfen ihrer Eltern zur Stall und Feldarbeit gebraucht wurden und denen, wenn sie am Morgen zur Schule kamen, noch das Heu oder Stroh ihrer schweren Arbeit aus den Kleidern stach?  Und hatte man ihm nicht fünf, nein: sechs! Medaillen verliehen, nachdem er in Badesommern am Fluß von plötzlich rotierenden Wirbeln erfaßte Schwimmer bei Gefahr für sein eigenes Leben vor dem Ertrinken gerettet hatte? 

Kohlhaas legte also Berufung ein. Dieser Einspruch beließ sein Verfahren aber in der Schwebe, was bedeutete, daß er bis auf weiteres nicht wieder in den Schuldienst, bis auf weiteres auch nicht wieder in sein altes Leben aufgenommen werden konnte. Berufung. Mein Vater war überzeugt, daß diese Entscheidung  nur zu einem Resultat führen konnte, einem Freispruch. Nichts anderes würde er, nichts anderes konnte er annehmen.

Die Witwe eines Kohlenhändlers, die ihm vor dem Krieg als Frau versprochen war, die bei seiner späten Heimkehr aber längst verheiratet und nun erst wieder alleinstehend war, beschaffte ihm ein erstes Darlehen für die Kosten des Verfahrens. Kohlhaas nahm dazu Arbeit am Fließband in einer Großtischlerei, dann aber in einer der Papierfabriken am Fluß an - weil ihm nur dort fortwährende Nachtschicht erlaubt wurde. Er schlief tagsüber und fuhr mit einem Moped täglich, auch bei Regen und Schneefall, zur Nachtschicht um 22:00 Uhr, in die Finsternis. Er wollte im Dorf nicht gesehen werden und wollte auch niemanden sehen, bis sein Freispruch bestätigt sein würde. Ich erinnere mich an einen Alteisenhändler, der, auch dies nur nebenbei, mit einem Dichter namens Thomas Bernhard aus dem Nachbardorf gelegentlich Geschäfte machte, wenn der Dichter nach stilgerechten Ausstattungen für einen seiner Höfe suchte. Der Alteisenhändler, ein Parteifreund des regierenden Bürgermeisters und wegen einer Reihe fehlender Zähne an seiner Aussprache selbst am Telefon zweifelsfrei erkennbar, rief monatelang und manchmal tiefnachts, wenn Kohlhaas am Fließband stand, in unserer Wohnung an und brüllte den Kindern des Angeklagten oder seiner Frau ins Ohr, ihr Mann, unser Vater, der verurteilte Dreckslehrer, sei ein Hurensohn und Verbrecher, den man nicht einsperren, sondern aufhängen sollte. 

Heinrich von Kleist schrieb über diese Tage: "Es fehlte Kohlhaas … keineswegs an Freunden, die seine Sache lebhaft zu unterstützen versprachen … Gleichwohl vergingen Monate, und das Jahr war daran, abzuschließen, bevor er … auch nur eine Erklärung über die Klage, die er … anhängig gemacht hatte, geschweige denn eine Resolution selbst, erhielt."

Zu Kohlhaas' engsten Freunden, die sich als Feinde des regierenden Bürgermeisters verstanden, gehörten ein Bäcker, ein Fuhrwerksunternehmer und ein Gastwirt, Ehrenmänner des Dorfers, die ihm dringend empfahlen, doch nun seinerseits zweifelhafte Geschäfte des Bürgermeisters zur Anzeige zu bringen, sie würden das Material dazu liefern. War denn nicht mitten im Auwald, einer Flußlandschaft, in der neben anderen Orchideengewächsen selbst der seltene Frauenschuh gedieh, den die Himmelskönigin Maria auf ihrem Weg ins Paradies getragen haben sollte, nun gegen alle Naturschutzbestimmungen ein Tümpel voll Ölschlamm, giftiger Schlacke zum Vorteil einer Ölbohrgesellschaft entstanden? Und waren denn nicht Bauaufträge ohne Ausschreibung vergeben und Geistesverwandte mit Schotterlieferungen aus gemeindeeigenen Gruben  bedacht worden? 

Wie in den Jahren seines verlorenen Glücks war Kohlhaas auch diesmal bereit, Wohlmeinenden dienstbar zu sein, ging es doch nun auch um sein eigenes Schicksal. Er schrieb also einen Brief an die Behörde, listete darin die von den Freunden vorgeschlagenen zweifelhaften Unternehmungen des Bürgermeisters auf und blieb auf den Rat der Wohlmeinenden hin als Verfasser anonym. Wer würde denn, war ihm geraten worden, einem Angeklagten, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Verbrechen eines anderen lenken wollte, Glauben schenken? Auch wenn der Bäcker, der Gastwirt und der Fuhrwerksunternehmer nicht leugnen wollten, daß der Untergang des Bürgermeisters auch ihnen Vorteile verschaffen würde, konnte es Kohlhaas doch nur nützen, wenn sein Ankläger nun seinerseits im Zwielicht erschien.

Die Behörde wollte die erhobenen Beschuldigungen zwar nicht bestätigen, konnte aber das Schreiben durch den aufliegenden Schriftverkehr zur Berufungsverhandlung diesem Kohlhaas zuordnen, der daraufhin der Verleumdung bezichtigt wurde. Die einflüsternden Ehrenmänner, Bäcker, Fuhrwerker und Wirt, gaben im Ermittlungsverfahren zu Protokoll, sie hätten über das betreffende Schreiben zwar irgendwann gesprochen, das ja, es aber um Himmelswillen nicht  verfaßt und um Himmelswillen nicht abgeschickt und also um Himmelswillen damit nichts zu tun. 

Ich las in diesen Tagen Heinrich von Kleists Novelle vom Roßhändler zum dritten Mal und träumte von einem triumphalen Ende aller Prozesse, träumte davon, daß mein Vater sich in einem Siegeszug im Dorf zeigen würde: "… ein großes Cherubsschwert, auf einem rotledernen Kissen, mit Quasten von Gold verziert, ward ihm vorangetragen, und zwölf Knechte, mit brennenden Fackeln folgten ihm …"

Tatsächlich aber wurde Kohlhaas, noch bevor sein Berufungsverfahren in anderer Sache entschieden war, wegen Verleumdung, wenn auch noch einmal unter Berücksichtigung mildernder Umstände, zu einer weiteren bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Der Abstand zu seinem früheren bürgerlichen Leben schien damit ein unüberbrückbarer Abgrund geworden zu sein.

Als nach fünf Jahren Nachtarbeit am Fließband der Papierfabrik und schon jenseits aller Hoffnungen ein Berufungsgericht entschied, daß mein Vater als Kassier zwar seine Befugnisse überschritten habe, er aber tatsächlich weder ein Betrüger noch ein Dieb sei und ihm deswegen alle Rechtsfolgen seiner Verurteilung erlassen wurden - er konnte also in allen Ehren wieder in den Schuldienst aufgenommen werden und durfte auch seine verlorenen Ehrenämter wieder bekleiden -, starb meine Mutter. Sie hatte in den Jahren der Unsichtbarkeit ihres Mannes die Lasten wie die Repräsentation der Familie in allen Belangen allein getragen, hatte anonyme Briefe geöffnet und meinem Vater verschwiegen, hatte die Verfluchungen des Alteisenhändlers und andere Demütigungen schweigend ertragen. So wie sie Kohlhaas einst beschworen hatte, er solle sich keiner Wahl stellen und keine Anschuldigungen gegen Stärkere erheben, so hatte sie ihren Mann, wenn er von seinen Nachtschichten zurückkehrte, auch beschworen, den Selbstmord, von dem er immer wieder sprach, wenigstens um seiner Kinder und seiner Frau willen nicht zu begehen. Aber das schmerzhafte Gewicht dieses Lebens war ihr am Ende zu schwer geworden. Über ihre letzten Stunden schrieb Heinrich von Kleist, daß sie dem Priester, der in ihr Sterbezimmer getreten war, die Bibel aus der Hand nahm, darin „blätterte und blätterte, und … etwas zu suchen schien; und zeigte dem Kohlhaas, der an ihrem Bette saß, mit dem Zeigefinger, den Vers: "Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen.“

Nach ihrer Bestattung auf dem Dorffriedhof lehnte mein Vater die Wiederaufnahme in die dörfliche Gemeinschaft ab und begann alle Vorbereitungen zu treffen, das Dorf, in dem er sein Leben verbracht hatte und in dem ihm nun sogar die Stelle eines Schuldirektors angeboten wurde, zu verlassen, „weil ich“, ließ Heinrich von Kleist ihn sagen „weil ich in einem Lande … in welchem man mich, in meinen Rechten, nicht schützen wollte, nicht bleiben mag.“ 

Kohlhaas löste die Wohnung im Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläums-Lehrerheim auf - ich erinnere mich an einen mit Sommerkleidern meiner Mutter vollgestopften Mülleimer, von dessen Rand mit Blumen gemusterte Ärmel winkten, als ich ihm bei der Räumung zu Hilfe kommen wollte - und übersiedelte in den Geburtsort meiner Mutter, der am Unterlauf jenes Flusses lag, in dem die Salzzillen einst nach der Überwindung des Großen Falls wieder ruhig dahingeglitten waren. Dort lebte er bis zu seinem Ruhestand als einfacher Lehrer und Gemeindebibliothekar in einer dunklen, winzigen Wohnung, von deren Fenstern er an allen Tagen des Jahres Singvögel fütterte, von denen er jeden einzelnen an seinem Gesang erkannte. Wenn es etwas Ehrenvolles von seinen Kindern zu berichten gab, etwa von den Karrieren seiner Tochter, die in der Kanzlei des Anwaltes von Thomas Bernhard die Tagsatzungen abwickelte, oder von seinen Söhnen, die Lehrer, Schauspieler und Schriftsteller geworden waren, kopierte er die entsprechenden Nachrichten, auch Zeitungsausschnitte, auf dem Postamt des Dorfes und versandte sie an alle Wohlmeinenden, um ihr Vertrauen in ihn und seine Familie zu rechtfertigen. Dreimal jede Woche fuhr er mit dem Postbus zum Grab meiner Mutter, entzündete dort Kerzen und erneuerte einen dadurch niemals verblühenden Blumenstrauß in einer Steckvase aus braunem Plastik.. 

Auch an seinem eigenen Todestag, viele Jahre nach dem Drama seines Untergangs, wartete er an einer Bushaltestelle, von der aus das Benediktinerkloster, in dem ich zur Schule gegangen war, wie eine alles Land überragende Festung zu sehen war. Wir waren an diesem Tag am Grab meiner Mutter verabredet und wollten dann in einen Gastgarten, der weit draußen zwischen Weizenfeldern lag. Seine letzte Freundin, eine pensionierte Gemischtwarenverkäuferin, wollte ihn, wie schon so oft, auch diesmal begleiten und saß neben ihm auf der Wartebank der Bushaltestelle und hielt seine Hand, als er plötzlich ohne ein Zeichen des Schmerzes oder des Erschreckens und ohne ein Wort vornüber sank. Sie konnte ihn nur mit Mühe halten und verhindern, daß er auf das Straßenpflaster fiel. Während Bus um Bus ankam und wieder abfuhr und sich eine Menge von Neugierigen staute und wieder verlief, erklärte ein unter Blaulichtblitzen eingetroffener Notarzt meinen Vater für tot. Er wurde vom örtlichen Bestatter in die Leichenkammer des Benediktinerklosters gebracht. Hinter meterdicken Mauern schienen sich dort noch Frühlingstemperaturen erhalten zu haben. Dabei war draußen Sommer. Ein brütend heißer Tag im Juli.

Als ich diese dämmrige Kammer kaum eine Stunde nach der Todesnachricht betrat, sah ich Kohlhaas in sommerlicher Kleidung, wie bereit zu einem Nachmittag am Fluß, auf einem Katafalk liegen. Der plötzliche Herztod hatte sein Gesicht, seine Arme blauviolett verfärbt. Das wird verschwinden, sagte der Bestatter, dieses Blau wird verschwinden. Am Abend wird ihr Vater wieder sein, wie er war. 

Ich stand lange an der Bahre und habe vergessen, ob es Sekunden oder Minuten dauerte, bis ich begriff, daß ich den Körper wieder und wieder nach einem Lebenszeichen absuchte, einem Atemzug, einem Pulsschlag, einer sanften, kaum merkbaren Dehnung des Brustkorbs… Aber vor mir lag nur der Leichnam eines freien Mannes.

 


Hanns Zischler verlieh Kleist-Preis 2017 an Ralf Rothmann

Am 19. November 2017 wurde der Kleist-Preis 2017 feierlich vergeben. Preisträger war der Schriftsteller Ralf Rothmann, auf Vorschlag der Vertrauensperson Hanns ZischlerRalf Rothmann ist 1953 in Schleswig geboren, aufgewachsen in Oberhausen und seit 1976 in Berlin lebend. Rothmann absolvierte eine Maurerlehre, arbeitete als Fahrer, Koch, Drucker, Krankenpfleger und veröffentlicht seit den 80er Jahren Gedichtbände, Erzählungen und Romane im Suhrkamp-Verlag, die vielfach mit Preisen ausgezeichnet wurden – u.a. dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung oder dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Rothmanns Literatur ist geprägt von autobiographischen Erfahrungen im Ruhrpott und in Berlin, sie kommt aus der Arbeiterschaft, aus dem Kiez, sie ist meisterhaft in ihren lakonischen Alltagsschilderungen und folgt einer Ästhetik des Humanen aus genuin christlicher Verantwortung. Exemplarisch bezeugen das Romane wie Milch und Kohle (2000), Junges Licht  (2004), Feuer brennt nicht (2009) sowie zuletzt Im Frühling sterben (2015), dessen eindringliche Kriegsschilderung die Rezensentin der NZZ, Beatrice von Matt, an Bilder Goyas und an Kleists Poetologie der Unausweichlichkeit erinnerte.

Das Grußwort sprach der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger. Ulrich Matthes las aus dem Werk Rothmanns und Heinrich von Kleists.
Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Markus Krusche. Die Verleihung fand im Deutschen Theater Berlin statt.

Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Das Preisgeld geben die Holtzbrinck Publishing Group, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Ministerien für Wissenschaft, Forschung und Kultur der Länder Berlin und Brandenburg. Der Kleist-Preis hat eine lange Tradition. In den 10er und 20er des letzten Jahrhunderts wurden u.a. Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Robert Musil oder Anna Seghers ausgezeichnet. Nach der Wiederbegründung des Preises 1985 hießen die Preisträger u.a. Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Ernst Jandl, Monika Maron, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Martin Mosebach, Gert Jonke, Daniel Kehlmann, Wilhelm Genazino, Arnold Stadler, Sibylle Lewitscharoff, Navid Kermani, Marcel Beyer, Monika Rinck und zuletzt Yoko Tawada.

Bilder von der Verleihung des Kleist-Preises 2017 an Ralf Rothmann

Ulrike Ottinger verlieh den Kleist-Preis 2016 an Yoko Tawada

Der Kleist-Preis des Jahres 2016 wurde am 20. November an die Schriftstellerin Yoko Tawada während einer Matinée im Berliner Ensemble übergeben. Die Laudatio hielt die Filmkünstlerin, Malerin, Fotografin und Autorin Ulrike Ottinger.

Seit den 80er Jahren schreibt die in Japan geborene Yoko Tawada in deutscher Sprache (daneben existiert ein eigenes Werk in japanischer Sprache). In Gedichten, Romanen, Prosa, Theaterstücken und Essays hat Tawada eine ganz originäre Schreibweise entwickelt, in der Motive wie Fremdheit und Übersetzung in subtilen Sprachspielen entfaltet werden (Wo Europa anfängt, 1991; Überseezungen, 2002). Die Sprache ihrer Lyrik und Prosa ist von großer Schönheit und erotischer Spannung (Das nackte Auge, 2004; Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden, 1997; Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch für 22 Frauen, 2000). Ihre Theaterstücke sind zumeist mehrsprachige, interkulturelle Projekte, in denen die Wechselbeziehung zwischen Europa und Orient/Asien neu vermessen bzw. buchstäblich entstellt wird (z.B. Orpheus oder Izanagi - Till, 1998). Tawadas Werk ist bereits mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. durch den Adelbert-von-Chamisso-Preis, die Goethe-Medaille, den Murasaki-Shikibu-Literaturpreis.

Bilder von der Preisverleihung

Günter Blamberger: Verwandlungsspuk und Verwandlungszauber

Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Yoko Tawada im Berliner Ensemble, 20.11.2016

Sehr geehrter Herr Gesandter Fujiyama, sehr geehrter Herr von Holtzbrinck, sehr verehrte Frau Gehrke, liebe Mitglieder und Freunde der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, lieber Herr Peymann, lieber Herr Beil, liebe Frau Ottinger, liebe und heute zu ehrende Yoko Tawada,

laut Programmzettel wird aus der Matinée heute eine Geisterstunde. Nach Kleists Bettelweib erwartet uns die Fuchsgeist-Szene aus Ulrike Ottingers Film Unter Schnee und am Ende Yoko Tawadas Erzählung Der Hausgeist. Nichts als Gespenster also, so scheint es. In Kleists Erzählung verweist der Marquese das Bettelweib aus dem Winkel, in dem er seine Jagdbüchse gewöhnlich abstellt, zum Ofen — eigentlich kein übler Platz in einem kalten Schloss. Doch das Bettelweib rutscht aus, stirbt und beginnt zu spuken. Vermeintlich ist der Tod des Marquese am Ende nichts anderes als der Sünde Sold. Neigt Kleist zur Übertreibung, oder ist das Ganze gegen den Strich zu lesen? So lakonisch-nüchtern wird die Gespenstergeschichte erzählt, dass es einen erst zu gruseln beginnt, wenn man von eilfertigen Schuldzuweisungen für diesen tödlichen Sturz absieht, sich dem Schweigen des Textes aussetzt und es erträgt. Das heißt vor allem: aushalten, dass das Sterben so banal und absurd sein kann wie ein Leben, absurd im wörtlichen, ursprünglich musikalischen Sinne, also disharmonisch zur menschlichen Vernunft. „Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es ist ein bloß unbegriffener!“ schreibt Kleist 1806 an seinen Freund Rühle.Das provoziert bis heute, auch Kleist-Preisträgerinnen. Vielleicht erinnern sich manche an Sibylle Lewitscharoffs Dankesrede von 2011, ihre Klage, dass Kleists Literatur trostlos sei. Ein Missverständnis meines Erachtens. Kleists Literatur macht vielmehr das Schweigen der Welt hörbar. Positiv ist das zu verstehen, wie Kant in seiner Kritik der Urteilskraft den Vorteil von ästhetischen Ideen vor Vernunftbegriffen verstanden hat. Werke der Dichtung und der Künste nur könnten es wagen, dem Unbestimmten eine Form zu geben, die Grenzen des empirisch und begrifflich Fassbaren zu übersteigen, in Bereiche jenseits der Sagbarkeit für Wissenschaft und Philosophie vorzudringen. Dazu gehöre das Jenseits des Todes, die Verwandlung von Etwas in Nichts, aber auch die Verwandlung von Nichts in Etwas, das Geheimnis vom Ursprung des Schöpferischen und von der Verwandelbarkeit aller Gestalten und Gestaltgebungen.

mehr lesen ...


Kleist-Preis 2015 an Monika Rinck verliehen

In einer glanzvollen Matinee hat die Berliner Dichterin und Essayistin Monika Rinck am Sonntag, 22. November den diesjährigen Kleist-Preis verliehen bekommen. Die Inszenierung des Berliner Ensembles hielt neben einer ebenso brillanten wie intensiv würdigenden Rede des Laudators Heinrich Detering und einemGrußwort des Präsidenten der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Günter Blamberger, auch Überraschungen parat: So unter anderem einen Kanongesang nach Kleist, in den am Ende auch das Publikum einstimmen durfte. Die Preisträgerin wiederum demonstrierte in einer eingehenden Lektüre, warum wir auch heute mit Kleist und seinen Werken noch nicht an ein Ende gekommen sind.

Die Rede Monika Rincks zur Entgegennahme des Kleist-Preises finden Sie hier.







Hortensia Voelckers verlieh den Kleist-Preis 2014 an Marcel Beyer

Der Kleist-Preis des Jahres 2014 ging an den Dresdner Schriftsteller Marcel Beyer. Bekannt geworden ist er durch Romane wie "Flughunde", "Spione" oder "Kaltenburg", Gedichtbände wie "Falsches Futter"  oder "Erdkunde", Essays wie "Nonfiction" oder Erzählungen wie "Putins Briefkasten", die dunkle erflechtungen von Wissenschaft, Kunst und Politik in der deutschen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in häufig experimentellen Darstellungsformen aufspüren. Marcel Beyer erhielt dafür bereits zahlreiche Preise, u.a. den Berliner Literaturpreis (1996), den Heinrich-Böll-Preis (2001), den Friedrich-Hölderlin-Preis (2003) oderden Joseph-Breitbach-Preis (2008). 
Der Kleist-Preis wurde Marcel Beyer am 23. November 2014 in Berlin während einer Matinée im Berliner Ensemble übergeben.


Nike Wagner verlieh Kleist-Preis 2013 an Katja Lange-Müller

Am 17. November wurde während einer Matinée im Spiegelsaal des Berliner Ensembles der Kleist-Preis an Katja Lange-Müller übergeben. mehr
Die Rede des Präsidenten der Kleist-Gesellschaft, Prof. Günter Blamberger, finden Sie hier.
Katja Lange-Müllers Dankesrede mit dem Titel "Kleist, der Krieg und die Welt" können Sie hier nachlesen.


Kleist-Preis 2013 geht an Katja Lange-Müller

Der Kleist-Preis des Jahres 2013 geht an die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller, eine der sprachmächtigsten Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur, deren Erzählungen und Romane oft Gegengeschichten zur offiziellen Geschichtsschreibung sind. Von den Außenseitern der Gesellschaft handeln sie, von den Dramen des Alltags im Osten wie im Westen Berlins. Der Humor ist für Katja Lange-Müller dabei die Kehrseite der Melancholie. Davon zeugen Werke wie ‚Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei’ (2000), ‚Die Enten, die Frauen und die Wahrheit’ (2003) oder ‚Böse Schafe’ (2007) – alle bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschienen. Katja Lange-Müller ist mit vielen Preisen bereits ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Ingeborg Bachmann-Preis 1986, mit dem Berliner Literaturpreis 1996, mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2008. 2012 hatte sie ein Villa Massimo-Stipendium in Rom.
Der Kleist-Preis wird Katja Lange-Müller am 17. November 2013 in Berlin während einer Matinée im Berliner Ensemble übergeben, die Claus Peymann inszenieren wird. Die Laudatio hält Nike Wagner, die langjährige Leiterin des Kunstfestes Weimar, die kürzlich für die Intendanz des Bonner Beethovenfestes nominiert wurde. Sie hat – als von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft gewählte Vertrauensperson – Katja Lange-Müller in alleiniger Verantwortung, der Tradition des Kleist-Preises gemäß, zur Preisträgerin bestimmt. Die Jury des Kleist-Preises bestand diesmal aus Jens Bisky (SZ), Günter Blamberger (Universität zu Köln), Gabriele Brandstetter (FU Berlin), Wolfgang de Bruyn (Kleist-Museum Frankfurt/Oder), Michael Maar (freier Autor) und Sigrid Weigel (Zentrum für Literaturforschung Berlin). 
Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Das Preisgeld geben die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Ministerien für Wissenschaft, Forschung und Kultur der Länder Berlin und Brandenburg. Der Kleist-Preis hat eine lange Tradition. In den zehner und zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden u.a. Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Robert Musil oder Anna Seghers ausgezeichnet. Nach der Wiederbegründung des Preises 1985 hießen die Preisträger u.a. Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Ernst Jandl, Monika Maron, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Martin Mosebach, Gert Jonke, Daniel Kehlmann, Wilhelm Genazino, Arnold Stadler, Sibylle Lewitscharoff und zuletzt Navid Kermani.


Kleist-Preis 2012 an Navid Kermani verliehen

Am 18. November erhielt der Kölner SchriftstellerNavid Kermaniauf einer Matinée im Berliner Ensemble den Kleist-Preis 2012.  Der mit 20.000 € dotierte Preis wird ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung des Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien, der Länder Berlin und Brandenburg sowie der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck und jährlich von der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft vergeben.  
Die Rede von Prof. Dr. Günter Blamberger, Präsident der Kleist-Gesellschaft, zur diesjährigen Preisverleihung lesen Sie hier.
Die Laudatio hielt der Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert, der – als von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft gewählter Vertrauensmann – Navid Kermani in alleiniger Verantwortung, der Tradition des Preises gemäß, zum Preisträger bestimmt hat.
Den Wortlaut der Dankesrede von Navid Kermani finden Sie hier.


Norbert Lammert verleiht den Kleist-Preis 2012 an den Kölner Schriftsteller Navid Kermani

Der Kleist-Preis des Jahres 2012 geht an den Kölner Schriftsteller Navid Kermani. Kermani, 1967 in Siegen geboren, ist habilitierter Orientalist, Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2011 erschien im Hanser-Verlag sein Roman „Dein Name“. Für sein literarisches und essayistisches Werk wurde Kermani vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hannah Arendt-Preis 2011 und dem Kölner Kulturpreis 2012. 

Der Kleist-Preis wird Navid Kermani am 18. November 2012 in Berlin während einer Matinée im Berliner Ensemble übergeben. Die Laudatio hält der Präsident des deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert, der – als von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft gewählter Vertrauensmann – Navid Kermani in alleiniger Verantwortung, der Tradition des Preises gemäß, zum Preisträger bestimmt hat.

Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Das Preisgeld geben die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Ministerien für Wissenschaft, Forschung und Kultur der Länder Berlin und Brandenburg. Der Kleist-Preis hat eine lange Tradition. In den zehner und zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden u.a. Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Robert Musil oder Anna Seghers ausgezeichnet. Nach der Wiederbegründung des Preises 1985 hießen die Preisträger u.a. Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Ernst Jandl, Monika Maron, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Martin Mosebach, Gert Jonke, Daniel Kehlmann, Wilhelm Genazino, Arnold Stadler und zuletzt Sibylle Lewitscharoff.


Verleihung des Kleist-Preises 2011

Sonntag, 20. November 2011, 11 Uhr
Berliner Ensemble
 

Der Kleist-Preis 2011 ging an die Berliner Autorin Sibylle Lewitscharoff, deren Roman Blumenberg, eine fiktive Hommage an den Philosophen Hans Blumenberg, demnächst im Suhrkamp Verlag erscheinen wird. Sibylle Lewitscharoffs Werke wurden bereits vielfach ausgezeichnet. Für den Roman Pong erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis, für den Roman Apostoloff den Preis der Leipziger Buchmesse 2009.

Der renommierte Kleist-Preis wurde Sibylle Lewitscharoff am 20. November in Berlin während einer Matinée im Berliner Ensemble übergeben, einen Tag vor Kleists 200. Todestag am 21. November. Die Laudatio hielt der Schriftsteller Martin Mosebach als von der Jury der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft gewählter Vertrauensmann. Der Kleist-Preis ist mit 20.000 Euro dotiert. Das Preisgeld geben die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, der Bund sowie die Länder Berlin und Brandenburg. Der Kleist-Preis hat eine lange Tradition. In den zehner und zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Hans Henny Jahnn, Bertolt Brecht, Robert Musil oder Anna Seghers ausgezeichnet. Nach der Wiederbegründung des Preises 1985 hießen die Preisträger u.a. Alexander Kluge, Thomas Brasch, Heiner Müller, Ernst Jandl, Monika Maron, Herta Müller, Hans Joachim Schädlich, Dirk von Petersdorff, Barbara Honigmann, Judith Hermann, Albert Ostermaier, Martin Mosebach, Emine Sevgi Özdamar, Gert Jonke, Wilhelm Genazino, Max Goldt, Arnold Stadler und zuletzt Ferdinand von Schirach.

zur Geschichte des Kleist-Preises


Gefördert durch