mobile Navigation
KLEIST MUSEUM DIGITAL

Empfehlen

Drucken

Sitemap

Konstruktive und destruktive Funktionen von Gewalt im Werk Heinrich von Kleists

Internationale Tagung

Universität Exeter
18.-20. Juli 2011

Tagungsprogramm herunterladen

Organisiert von Ricarda Schmidt (Exeter), Sean Allan (Warwick) und Steven Howe (Exeter), gefördert vom AHRC im Rahmen des AHRC-Projekts „Kleist, Erziehung und Gewalt – Die Transformation von Ethik und Ästhetik“.

Im Jahre 2011 begehen wir Heinrich von Kleists  200. Todestag. Nachdem er im 19. Jahrhundert größtenteils ignoriert wurde, gewann Kleist im 20. Jahrhundert Wertschätzung als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller. Sein Einfluß auf Nietzsche, Wedekind, Rilke, Thomas Mann, Kafka, Anna Seghers, Günter Kunert, Heiner Müller und Christa Wolf ist bekannt. Die erneute Verleihung des Kleist-Preises seit 1985 (nach einer Pause von mehr als 50 Jahren) dokumentiert seine anhaltende Bedeutung für zeitgenössische Schriftsteller von Judith Hermann bis Daniel Kehlmann.

Kleists Werk hat viele verschiedene Lesweisen inspiriert, und die Kleist-Forschung ist durch eine lange Geschichte seiner Inanspruchnahme für die verschiedensten Ideologien gekennzeichnet: Nationalisten, sogar Nationalsozialisten, haben ihn ebenso für den Ihren erklärt wie Marxisten, Psychoanalytiker, Feministinnen und Dekonstruktivisten.  Angesichts der großen Komplexität von Kleists Werk schrieb Jakob Minor zum 100. Todestag von Kleist in der Königsberger Hartungschen Zeitung, daß sein Werk ein ungelöstes Problem geblieben sei, trotz allem, was über ihn geschrieben worden sei. Minor wertete den Autor und sein Werk als das vielleicht größte Problem in der Literaturgeschichte. Nun, zum bevorstehenden 200. Todestag, fragen wir, was die Literaturwissenschaft in den letzten hundert Jahren zum Verständnis von Kleist beigetragen hat und wie wir Kleists Texte heute verstehen.

Kriege, Terror, Ideologien, Gewalt in der Familie - unsere kollektive Erfahrung in den letzten hundert Jahren hat uns besonders hellhörig für einen bestimmten Aspekt von Kleists Werk gemacht: die Darstellung von Gewalt. Formen der Gewalt in Kleists Werk reichen von Vergewaltigung, Kindesmord und Mord zu Terrorismus, Lynchjustiz, Rebellion, Guerrillakrieg und Krieg, bis zu öffentlichen Exekutionen. In den letzten Jahrzehnten ist dieses Thema in einer Reihe von Studien bearbeitet worden, u.a. von Helmut Arntzen, Lawrence Ryan, Walter Müller-Seidel, Wolf Kittler, Gonthier-Louis Fink, Gerhard Gönner, Birgit Hansen, Anthony Stephens, Christine Künzel, Maximilian Nutz, Bernhard Greiner sowie Lothar Jordan.

Wir möchten die in Exeter anläßlich von Kleists 200. Todestag stattfindende Tagung der Erforschung der destruktiven und konstruktiven Aspekte von Gewalt in Kleists Werk widmen. Manche Texte Kleists scheinen eine Rechtfertigung von Gewalt als konstruktives Mittel für einen höheren Zweck zu vermitteln, der aber heute oft als ein letztlich destruktiver Zweck fragwürdig geworden ist. In andereren Texten ist die Darstellung von Gewalt als Kritik an destruktiven sozialen Zuständen, repressiven polit-ideologischen  Überzeugungen, falschen anthropologischen Annahmen und patriarchalischen Geschlechtsrollen gelesen worden – also als eine indirekt konstruktive Kritik, die auf libertäre Zustände zielt. Wie lassen sich diese antagonistischen Interpretationen in konkreten Texten und im Gesamtwerk Kleists festmachen? Deuten Kleists Gewaltdarstellungen auf eine nihilistische oder eine humanistische Position hin, auf Geschichtspessimismus oder den idealistischen Versuch, den Verlauf von Geschichte beinflussen zu wollen? Wie bewerten wir Kleists Gewaltdarstellungen innerhalb ihres historischen und literaturgeschichtlichen Kontextes und aus dem Abstand von 200 Jahren? Welche Rolle spielen Sprache und Erzähltechnik in der Kleistschen Strukturierung von Gewalt? Welches Verhältnis zur Aufklärung läßt sich in Kleists Gewaltdarstellung entziffern? Welche Erkenntnisse über soziale und individuelle Formen von Gewalt sowie die Verknüpfungen von Liebe, Macht und Gewalt vermitteln uns Kleists Texte heute?

Wir bitten um Beiträge, die Kleists Werk unter diesen allgemeinen Fragestellungen oder unter einem der folgenden Teilaspekte behandeln (Vorschläge zu weiteren Perspektivierungen sind willkommen):

 

1. Gewalt und der Staat

  • Repräsentation von souveräner Macht und Gewalt
  • Diskursive Strategien für die Legitimation/Kritik von Gewalt des Souveräns
  • Philosophische Legitimationen für die Anwendung von Staatsgewalt/von Gewalt gegen den Staat
  • Die Funktion von historischen Ressentiments in der Motivierung von gewaltsamen Aktionen
  • Legale Formen von staatlicher Gewalt gegen Einzelne: Strafe und Tortur

 

2. Gewalt und Krieg

  • Die Ethik des Krieges
  • Militärische Justiz
  • Militärische Ausschreitungen
  • Soldatische Codes
  • Der rituelle Charakter von Krieg
  • Der geistige Horizont von Soldaten

 

3. Gewalt und Revolution

  • Die Psychologie revolutionärer Gewalt
  • Revolutionäre Strategien
  • Motivation und Taktik für die Legitimation revolutionärer Gewalt
  • Reaktionen auf revolutionäre Gewalt
  • Terroristen oder Revolutionäre

 

4. Gewalt und der Körper

  • Die Rolle des Körpers und von Körperteilen in gewaltsamen Handlungen
  • Die Funktion von Tierkörpern in gewaltsamen Konflikten
  • Tortur
  • Darstellungen des leidenden Körpers
  • Der Körper als Text

 

5. Gewalt und das Imaginäre/Symbolische

  • Die Freude an Gewalt
  • Gewalt und sexuelle Lust
  • Die Inszenierung von Gewalt
  • Imaginierte Gewalt im Gegensatz zu erlebter Gewalt
  • Symbolische Gewalt
  • (Physischer) Kampf um (symbolische) Repräsentation
  • Religiös motivierte Gewalt
  • Motivation und Vorgehen von Mobs
  • Gewaltsame Konfrontationen zwischen Kleist-Forschern

 

6. Gewalt und Literatur/Kunst

  • Literarische und künstlerische Modelle für die Darstellung von Gewalt bei Kleist
  • Der Effekt von Kleists Paradigmen der Gewalt auf Literatur, Kunst, Musik und Film
  • Historische Fakten und künstlerische Fiktion in Kleists Darstellung von Gewalt
  • Gewalt und das Übernatürliche
  • Gewalt und Gattungsfragen
  • Literarische Strategien zur Legitimation/Kritik von Gewalt

 

7. Gewalt und Sprache

  • Sprache als Schlachtfeld
  • Gewaltsame Rhetorik und Rhetorik der Gewalt
  • Gegensatz, Kontiguität oder kausale Beziehungen zwischen dem Kampf mit Worten und dem Kampf mit Waffen
  • Die Funktion von Metaphorik für die Legitimation von Gewalt
  • Gewalt als Ergebnis des Konfliktes zwischen diskursiven Systemen

 

8. Gewalt und Geschlecht

  • Geschlechterbeziehungen zwischen Opfern und Gewalttätern
  • Frauen als Gewalttäterinnen
  • Sadomasochismus
  • Gewalt als Effekt von patriarchalischen Strukturen
  • Die Unterminierung der moralischen Legitimation von patriarchalischen Strukturen als Nebenwirkung von Gewaltanwendung

 

9. Gewalt und Identität

  • Die Funktion von Gewalt für die Konstruktion von individueller (geschlechtlicher) Identität
  • Die Funktion von Gewalt für die Konstruktion von nationaler Identität
  • Gewalt und Rache

 

10. Gewalt und Philosophie/Rechtsphilosophie

  • Der Ursprung des Bösen in philosophischen Systemen und bei Kleist
  • Definitionen von Gewaltverbrechen in preußischen und europäischen Rechtssystemen um 1800
  • Gewalt in der legalen Behandlung von Verbrechern um 1800 in Preußen und in Europa
  • Historische Änderungen in der Wahrnehmung  der Darstellung von Gewalt sowie ihrer Wurzeln in Kleists Texten