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Tauschen und Täuschen: Kleist und (die) Ökonomie

Internationale interdisziplinäre Tagung

Warburg-Haus, Hamburg
16.-17. September 2011

Leitung: PD Dr. Christine Künzel und PD Dr. Bernd Hamacher (Institut für Germanistik II, Universität Hamburg) 

Obwohl die Werke Heinrich von Kleists inzwischen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer engagierten und theoretisch anspruchsvollen literaturwissenschaftlichen Forschung – unter zahlreichen diskursiven Aspekten (Recht/Justiz, Religion, Politik, Naturwissenschaften u.v.a.) untersucht worden sind, liegen bisher kaum Arbeiten vor, die sich explizit mit Aspekten der Ökonomie bzw. des Ökonomischen in Kleists Werk beschäftigen. Dieser Umstand verwundert umso mehr, als seit einigen Jahren – auch im deutschsprachigen Raum – eine umfangreichere Beschäftigung mit dem Verhältnis von Literatur und Wirtschaft stattfindet, die angesichts der globalen Finanzkrise eine über die disziplinären Grenzen hinausreichende Aktualität und Relevanz erlangt hat. Auch im 2009 erschienenen Kleist-Handbuch gibt es weder einen Eintrag zum Thema „Wirtschaft/Ökonomie“ noch einen Beitrag zum Stichwort „Geld“ – und dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Kleist sein kurzes Leben lang unter Geldnot litt und dieser Umstand Thema unzähliger Briefe an die Familie und an Freunde gewesen ist. Was läge näher, als in Hamburg, der Metropole der Kaufleute und des Handels, im Kleist-Jahr 2011 eine Tagung zum Thema „Kleist und (die) Ökonomie“ zu veranstalten.
Immerhin ist dem Beitrag zum Thema „Eigentum“ im Kleist-Handbuch zu entnehmen, dass die Auseinandersetzung mit dem Eigentum von Kleists Erstlingswerk „Die Familie Schroffenstein“ bis zu seiner letzten Erzählung „Der Zweikampf“ einen zentralen Topos innerhalb des Kleistschen Werkes bildet. Dies verwundert kaum, wenn man in Betracht zieht, dass Kleist nach seinem Abschied vom Militär in Erwägung zog, eine Anstellung im Zivildienst zu suchen und sich „dem Commerz und Fabriken Fache zu widmen“ (SWB IV, 149). Von Januar bis April 1805 arbeitete Kleist zunächst in Berlin im Finanzdepartement unter seinem Förderer Karl Freiherr von Stein zum Altenstein und wurde dann nach Königsberg geschickt, um eine entsprechende Ausbildung zu erhalten und in die Praktiken einer reformerischen Agrar-, Steuer- und Gewerbepolitik eingearbeitet zu werden. Die „Wiederherstellung der natürlichen Gewerbefreiheit“, Kleists „Lieblingsgegenstand“ (SWB IV, 354), ist auch zentraler Topos einer seiner bekanntesten Erzählungen, des „Michael Kohlhaas“. Während „Michael Kohlhaas“ wohl der einzige Text ist, in dem Besitz (relativ) positiv konnotiert ist, bilden Eigentum und unterschiedliche Besitzverhältnisse in den meisten Erzählungen und Dramen eine Quelle gewalthafter Auseinandersetzungen – so etwa beim Erbstreit zwischen den verfeindeten Zweigen der „Familie Schroffenstein“. Die etymologische Nähe von Tausch und Täuschung kommt insbesondere in der Erzählung „Der Findling“ zum Ausdruck. Hier soll der „Findling“ Nicolo statt des Sohnes, der der Pest zum Opfer gefallen ist, zu einem Kaufmann ausgebildet werden, um das Erbe des Adoptivvaters Piachi anzutreten. Doch im Gegensatz zum Ideal des Bildungsromans endet diese Erzählung in der Katastrophe: an die Stelle ehrlichen Tausches und ehrbaren Geschäftsgebarens treten Täuschung, Gier und Misstrauen.
Doch zeigt Kleist nicht nur die zerstörerische Wirkung von Besitz und Eigentum in familialen Strukturen auf, sondern auch in größeren politischen Dimensionen, etwa in der Thematisierung der Ausbeutung durch eine Kolonialmacht in dem Drama „Die Herrmannsschlacht“ und in der Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“.
Freilich würde man sich täuschen, wenn man von einer grundsätzlich negativen Besetzung und Bewertung des Ökonomischen bei Kleist ausgehen würde, in dem sich vielmehr die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ geradezu musterhaft ausprägt. So kann selbst der ‚Tausch’ des leiblichen Sohnes gegen einen Adoptivsohn plötzlich in rätselhaft positiver Beleuchtung erscheinen (am Ende des „Erdbebens in Chili“). Auch das vielleicht notorischste Rätsel der Kleist-Forschung betrifft das Ökonomische, nämlich der berüchtigte Beutel Gulden mit dem Antlitz des Spanierkönigs, den Gerichtsrat Walter im „Zerbrochnen Krug“ Eve anbietet, damit sie Ruprecht im Kriegsfall von der Konskription freikaufen könnte.
Weitere Aspekte ergeben sich in einem übertragenen Sinne des Begriffs Ökonomie. So gibt es etwa Hinweise auf den Einfluss ökonomischer Modelle und Konzepte in der Darstellung des Rechts (im „Michael Kohlhaas“ etwa die Metapher der „Goldwaage“), so dass man von einer Ökonomie des Rechts(systems) sprechen könnte. Auch was den Affekthaushalt der Figuren betrifft, scheint Kleist eine Art Ökonomie der Affekte bzw. Gefühle zu Grunde zu legen – etwa wenn er den Zusammenhang zwischen den Dramen „Penthesilea“ und „Das Käthchen von Heilbronn“ als „+ und – der Algebra“ bezeichnet. Zu untersuchen wäre, inwiefern Kleist mit seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“ möglicherweise auch einen Beitrag zur Ökonomie der Bewegung geschaffen hat. Letztendlich könnte man auch Kleists Sprache bzw. Stil unter dem Aspekt des Ökonomischen betrachten.

Für die thematische Konzeption der Tagung bedeutet dies, dass u. a. folgende Fragestellungen leitend sein sollen:

Detaillierte Analyse und Neuinterpretation von Werken Kleists im Hinblick auf den Aspekt des Ökonomischen.

Untersuchung konkreter Bezüge auf wirtschaftstheoretische Schriften (Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith, Christian Jakob Kraus u. a.) sowie auf die Praxis der ökonomischen preußischen Reformpolitik.

Die Symbolik des Geldes in Kleists Leben und Werk.

Differenzierung und Beziehung unterschiedlicher ökonomischer Systeme im Werk Kleists: z. B. Ökonomie des Rechts, Ökonomie der Affekte, Ökonomie der Sprache u. a.

Darstellung wirtschaftspolitischer Themen in den „Berliner Abendblättern“.

Die Bedeutung ökonomischer Aspekte in Kleists Biographie (Briefwechsel etc.).

Die Konferenz ist fächerübergreifend angelegt: Neben Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen werden auch WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialwissenschaften eingeladen zu referieren.

PROGRAMM

Freitag, den 16. September 2011 

12.30 Uhr        Eröffnung der Tagung 
Begrüßung durch die OrganisatorInnen; kurze Einführung 

I. Geld, Ich und Kunst 

13.00 Uhr        Dr. Georg Tscholl (Wien): Schwarze Löcher. Die liberale Poetik des Azubi Heinrich von Kleist

II. Ökonomien des Tausches und des Ausgleichs

13.45 Uhr        Prof. Dr. Georg Mein (Luxembourg): „... so war es ihm fast, als müßt er sich freuen.“ Intrikate Tauschprozesse in Kleists Das Erdbeben in Chili

14.30 Uhr        PD Dr. Johannes F. Lehmann (Duisburg-Essen): Zeichen und Zeit. Zur Ökonomie der Rettung          

15.15 Uhr        Kaffeepause

15.45 Uhr        Katharina Grabbe (Münster): Verstoß gegen die Tauschökonomie.

Frauentausch und Zeichentäuschung in Heinrich von Kleists Die Marquise von O....  

16.30 Uhr        Evi Fountoulakis (Basel): „Dies Haus, das jedem offen steht“. Ökonomie und Gastlichkeit in Kleists Erzählungen

17.15 Uhr        Kaffeepause

17.45 Uhr        Yves Schumacher (Zürich): Nemesis: Kleists metaphysische Ökonomie des Ausgleichs

18.30 Uhr        Dr. Anton Philipp Knittel (Flein): „Ich bin wieder ein Geschäftsmann geworden“. Der Phöbus im Spannungsfeld von Tausch und Täuschung

20.00 Uhr        Gemeinsames Abendessen

Samstag, den 17. September 2011 

III. Korruption und Armut

10.00 Uhr        Prof. Dr. Birger Priddat (Witten-Herdecke): Eigennutz und Gemeinwohl. Rechtsreform und Korruption. Kleists Zerbrochner Krug

10.45 Uhr        Jan Söhlke (Wien): „ein Handel wie um eine Semmel“ – Korruption in Der zerbrochne Krug

11.30 Uhr        Kaffeepause    

IV. Bezüge zu zeitgenössischen ökonomischen Diskursen

12.00 Uhr        Michael Horvath (München): Kleists Erdbeben in Chili im Lichte der Neuen Institutionenökonomik

12.45 Uhr        Dr. des. Sabine Biebl (München): Für eine ‚bessere Ordnung der Dinge‘. Eigentumsverhältnisse bei Heinrich von Kleist

13.30 Uhr        Abschlussdiskussion

Ca. 14.00 Uhr  Ende der Tagung

 

Anmeldung und Informationen ab 15. August 2011 unter:
E-Mail: christine.kuenzel@uni-hamburg.de